© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

Eine Stradivari ist auch nur eine Geige
Musikinstrumente: Ist eine moderne Geige genauso gut wie eine Stradivari? Eine US-amerikanische Studie versucht einen Mythos zu zerstören
Markus Brandstetter

Eine amerikanische Möchtegern-Literatin namens Delia Bacon veröffentlichte 1857 ein Buch, in dem sie behauptete, daß die Stücke William Shakespeares unmöglich von Shakespeare stammen könnten, da der zum Schreiben solch großartiger Werke nicht die dafür erforderliche Bildung besessen hätte. Miss Bacon gelangte zu dem Schluß, daß ein anderer Shakespeares Werke geschrieben haben müsse, einer, der so war, wie sie sich den wahren Shakespeare vorstellte: adelig, studiert und weitgereist. Nach einigem Hin und Her fiel ihre Wahl auf Francis Bacon, Jurist, Philosoph, Staatsmann und Universalgenie. Daß sich ihre Theorie durch nichts beweisen ließ und alle historischen Dokumente ihr widersprachen, störte Miss Bacon nicht im geringsten.

1979 schrieb der britische Autor Peter Shaffer ein Theaterstück mit dem Titel „Amadeus“. Darin tritt eine Figur namens „Mozart“ auf. Dieser Mozart ist ein großes, unartiges Kind, das unter Tischen und Stühlen herumkugelt, Sauereien von sich gibt, furzt, rülpst, andauernd laut und dämlich lacht, kurz und gut ein kompletter Vollidiot ist.

Wieder einige Jahre später, im Jahr 2011, verfaßten zwei britische Kunsthistoriker ein Buch über Vincent van Gogh. Die beiden Briten, deren Spezialität selbstzerstörerische Malgenies in den Klauen von Alkohol, Drogen und ungesunden Frauen sind, fanden heraus, daß der Maler der Sonnenblumen, Sternennächte, Nachtcafés, Zypressen und Sommerlandschaften ein einsamer, bösartiger Alkoholiker war, der an Syphilis litt und Menschen, die ihm Gutes wollten, von sich stieß.

Entmystifizierung nennt man so was. Seit nunmehr vierzig Jahren fegt eine Welle der Zerlegung, Zerfieselung und Dekonstruktion von Meistern, Meisterwerken, von Mythen, Geschichten und Biographien über die Welt hinweg.

Neu ist das nicht, denn schon Nietzsche hatte damit angefangen, aber zu einer Weltbewegung ist diese Disziplin erst im 20. Jahrhundert geworden. Ihr moderner geistiger Vater ist Michel Foucault, der vielleicht größte französische Philosoph des 20. Jahrhunderts. Foucault schrieb, daß es keinen Autor gäbe, sondern einen Diskurs; keine Verbrechen, sondern Strafen; keinen Wahnsinn, sondern Kliniken; keine Sexualität, sondern Gewalt.

Diese Botschaft haben Scharen kleinerer Geister, die nicht die selbstquälerische Tiefe Foucaults besaßen, begeistert aufgenommen. Mit Foucaults Theorien ausgerüstet zogen sie los, die Welt von ihrem schönen Schein zu befreien und sie uns als das zu zeigen, was sie in ihren Augen offenbar ist: ein Misthaufen bevölkert von traurigen Hanswursten, die ihre unsterblichen Werke in einer Art selbstproduktivem Wachkoma hervorbringen.

Kürzlich waren die italienischen Geigenbauer mit der Entmystifizierung dran, also die Stradivaris, Amatis und Guarneris aus Cremona, die vor 300 Jahren die Instrumente bauten, die alle großen Geiger der Welt spielen. Claudia Fritz von der Universität Pierre und Marie Curie in Paris und der amerikanische Geigenbauer Joseph Curtin führten dazu eine Reihe empirischer Untersuchungen durch, mit denen sie feststellen wollten, ob Geiger alte oder neue Geigen bevorzugten.

Das Experiment funktionierte so: Fritz und Curtin packten 21 Profigeiger in einen finsteren Raum und setzten ihnen dunkle Brillen auf. Zusätzlich waren die Kinnhalter der Instrumente dezent parfümiert, damit die Violinisten Alter und Herkunft ihrer Instrumente nicht etwa am Geruch erkennen konnten. Dann wurden jedem Geiger zwei Violinen in die Hand gedrückt, eine alte und eine neue, und zwar so, daß niemand wußte, welche die alte und welche die neue Geige war. Die alten Instrumente waren zwei Stradivaris und eine Guarneri del Gesù, die neuen drei zeitgenössische Nachbauten. Jeder der Teilnehmer sollte zuerst auf beiden Geigen jeweils eine Minute spielen und dann erklären, welche Violine ihm besser gefiele. Dann konnte jeder Geiger jedes Instrument (sechs standen zur Auswahl) eine halbe Stunde lang spielen, um schließlich sagen zu können, welche er gerne mit nach Hause nehmen würde.

Die Zusammenfassung der Resultate in einem renommierten US-amerikanischen Wissenschaftsjournal (Proceedings of the National Academy of Sciences) liest sich so: Erstens, die am meisten bevorzugte Geige war eine neue. Zweitens: Die am wenigsten bevorzugte Geige war eine Stradivari. Drittens: Es gibt kaum einen Zusammenhang zwischen dem Wert einer Geige und ihrem Klang. Viertens: Die meisten Geiger konnten nicht sagen, ob ihr Lieblingsinstrument alt oder neu war.

Ist damit auch dieser Mythos entzaubert? Stellen diese Testresultate wirklich unser überkommenes Wissen auf den Kopf? Sind sie also, wie die Fritz und Curtin schreiben, „a striking challenge to conventional wisdom“?

Es ist wohl alles halb so wild. Die Methodologie der Untersuchungen überzeugt nicht. Mit sechs Instrumenten und 21 Probanden läßt sich keine Datenbasis erzeugen, die statistisch signifikant wäre. Die Stichprobe ist zu klein und nicht zufällig ausgewählt. Die Antworten der Geiger auf die gewählten Frageparameter (Tonfarbe, Spielbarkeit, Tragweite, Resonanz) mußten subjektiv-impressionistisch ausfallen. Der entscheidende Einwand gegen die Studie liegt aber darin, daß die Resultate der kollektiven Erfahrung Tausender Spitzengeiger aus 150 Jahren Konzertpraxis widersprechen. Praktisch alle großen Geiger dieser Zeit haben auf ganz normalen Instrumenten gelernt, sich später aber ausnahmslos für eine der Geigen aus Cremona entschieden. Das hätten so viele und von Temperament und Persönlichkeit her so unterschiedliche Künstler nie getan, wenn die alten italienischen Geigen nicht deutlich besser klängen als ihre zeitgenössischen Nachbauten.

Trotzdem hat die Studie von Fritz und Curtin auch ihr Gutes. Kenner wissen schon lange, daß einige der besten modernen Geigen an die Instrumente aus Cremona heranreichen. Das ist immerhin ein kleiner Trost für alle diejenigen Musiker, die sich keine Stradivari für ein paar Millionen Euro leisten können.

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