© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

Einer muß führen
Vorherrschaft: Zur Debatte um Deutschlands hegemoniale Rolle in Europa
Thorsten Hinz

Die aktuelle Januar-Ausgabe der Monatszeitschrift Merkur ist die erste seit fast dreißig Jahren, die ohne die gestrenge Aufsicht des Gottvaters – des langjährigen Herausgebers Karl Heinz Bohrer – erscheint (JF 2/12). Dessen Nachfolger, der Kunsthistoriker Christian Demand, hat seine Antrittserklärung erst an sechster Stelle plaziert. Die fünf Autoren, denen er den Vortritt läßt, widmen sich unter verschiedenen Gesichtspunkten einem Thema: Europa.

Dabei werden teilweise Töne angeschlagen, die in einer etablierten Zeitschrift überraschen. Christoph Schönberger, Professor für Öffentliches Recht in Konstanz, meint, daß Europa sich nur durch die deutsche Hegemonie zu einem eigenständigen politischen Körper entwickeln könne. Deutschland müsse „führen, wenn überhaupt geführt werden soll“. Denn die Europäische Union sei nicht vergleichbar mit den USA, wo die Bundesstaaten und die Zentralgewalt sich parallel herausgebildet haben und sich gegenseitig bedingen. In Eu-ropa existieren jahrhundertealte Staaten mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Kulturen, Eigensinnigkeiten im Guten wie im Schlechten. Die Lage sieht er ähnlich wie im Deutschen Bund im 19. Jahrhundert. Da es keine anerkannte und machtvolle Instanz oberhalb der Einzelstaaten gab, übernahm Preußen als Hegemon die Führungsrolle bei der Reichseinigung.

Hegemonie heißt: Bei formeller Gleichheit ragen aus einem Bündnis ohne verbindliche Obergewalt die Größeren heraus und sind zur Führung prädestiniert. Hegemonie ist etwas anderes als Dominanz: Sie umfaßt auch die Befähigung, neben den eigenen die Interessen der anderen zu berücksichtigen und gegebenenfalls unter eigenen Opfern zu einem Ausgleich zu bringen, der allen nutzt.

Schönberger bezweifelt, daß die politischen Institutionen und Mentalitäten in Deutschland dafür bereit sind. Er kritisiert nicht nur die „Selbstprovinzialisierung“ Deutschlands, er hat den Ehrgeiz, über eine ästhetisierende Nur-Kritik hinauszugehen und den Abschied von einem Geist zu vollziehen, den Günter Maschke auf die bekannte Formel von der „Verschwörung der Flakhelfer“ brachte. Zu deren Köpfen zählte er Helmut Kohl, Hans Magnus Enzensberger und Jürgen Habermas: „Unaufhörlich betonen Vertreter dieser Generation, die allesamt glauben, die Macht sei böse und eine Macht für Deutschland das böseste, daß Deutschland, auch als wiedervereinigtes, zur Schwäche verurteilt sei und ohne amerikanischen Schutz nicht überleben könne (...).“ Ihre Koordinaten seien die Erinnerung an die Carepakete sowie eine importierte Demokratiewissenschaft, welche die Frage nach den machtpolitischen Grundtatsachen der bundesrepublikanischen Staatlichkeit ausspart. Schönberger macht den Versuch, aus diesem Gedanken-Gefängnis auszubrechen, was ihm allerdings nur halb gelingt.

Ausgerechnet das Bundesverfassungsgericht rechnet er zu den institutionellen Hindernissen einer effektiven deutschen Hegemonialpolitik, weil es auf der Mitwirkung des Bundestags an den Europa-Beschlüssen und auf dem eigenen Kontrollrecht besteht. Vor dem Hintergrund des Euro-Desasters und der wachsenden Belastungen für Deutschland mutet das merkwürdig an.

Gewiß schlägt hier eine verkappte Verehrung für Otto von Bismarck durch, der außenpolitisch klüger war als das Parlament und sich deshalb von ihm nur ungern hineinreden ließ. Doch welcher deutsche Politiker von heute ist vergleichbar mit Bismarck? Wer hätte die Fähigkeit, den Instinkt, die historische und kulturelle Bildung, um europäisches Interesse und die deutsche Hegemonie zu verbinden? Bismarck, wenn er die Interessen der anderen Länder mitbedachte, verlor die preußisch-deutschen niemals aus dem Blick.

Bei dem aktuellen politischen Personal hierzulande kann man da nicht so sicher sein. Das ist nicht nur individuelles Versagen, sondern ein strukturelles Dilemma, das auch Schönberger höchstens streift. Das Spannungsverhältnis zwischen Berlin und Brüssel besteht doch darin, daß ein Aufgehen in Europa für die deutsche Politik einen Selbstzweck darstellt, ja eine Erlösung von sich selbst, während diese „in Deutschland tief inhalierte Lehre von der postnationalen Konstellation gerade nicht gemeinsame Handlungsgrundlage der Mitgliedsländer ist“, wie der Politikwissenschaftler Philip Manow (auf dessen hochgescheites Buch „Im Schatten des Königs“ hier schon verwiesen wurde, JF 48/10) in einem anderen Artikel schreibt.

Die Verstöße der südeuropäischen Staaten gegen die Regeln der Gemeinschaftswährung folgen ganz klar nationalen Eigeninteressen, die von Appellen an die europäische Solidarität begleitet werden. Diese richten sich de facto ausschließlich an die Adresse Deutschlands, das bürgt und zahlt, aber nichts dafür bekommt. Anders gesagt: Wer hegemonial handeln und damit ein Gemeinschaftsinteresse vorantreiben will, darf sein natürliches Eigeninteresse nicht aufgegeben haben. Ein exekutives Durchregieren, das Schönberger vorschwebt, kann in diesem Fall bloß Schaden anrichten!

Helmut Kohl und der Euro sind dafür ein schlagendes Beispiel. Der Euro war den Deutschen als ein indirektes Hegemonialprojekt angepriesen worden. Er würde die deutsche Währungsstabilität für Europa verbindlich machen, den Kontinent durch allgemeine Prosperität zusammenführen und ihn damit zum machtvollen Akteur der Weltpolitik aufsteigen lassen.

In Wahrheit entstand er aus nicht überwundener deutscher Angst. Am 12. Dezember 1989 erklärte Kohl dem amerikanischen Außenminister James Baker, der ihn auf die Widerstände der Europäer gegen die Wiedervereinigung angesprochen hatte: „Er frage sich, was er denn noch mehr tun könne, als beispielsweise die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion mitzutragen. Diesen Entschluß habe er gegen deutsche Interessen getroffen. (...) Aber der Schritt sei politisch wichtig, denn Deutschland brauche Freunde. Es dürfe uns gegenüber kein Mißtrauen geben in Europa.“ Wer nur ein wenig geschichtlich informiert ist, findet in Kohls Worten den Alptraum wiederkehren, der 1914 unter dem Stichwort „Einkreisung“ die deutsche Politik beherrschte.

Um Erkenntnisfrüchte zu tragen, muß eine Debatte über die Rolle Deutschlands in Europa bis ganz an den Anfang zurückgeführt werden.

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