© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

Pankraz,
J. Masing und der deutsche Sonderweg

Rohrstock Leserbriefspalte. In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung hatte Johannes Masing, Juraprofessor und frisch gekürter Bundesverfassungsrichter, einen Artikel zum Thema „Wissen und Verstehen“ veröffentlicht, in dem er die bedrohlich anwachsende Flut unverarbeiteter Fakten an unseren Schulen beklagte. Daraufhin meldete sich per Leserbrief ein Kollege von der historischen Zunft namens Ries, hob den Zeigefinger und forderte politisch korrekten Zungenschlag. Masing habe an sich recht, aber er sollte nicht das Wort „verstehen“ verwenden. Denn dieses sei durch die deutsche Geistestradition kontaminiert.

„Der Verstehensbegriff“, so der Leserbriefler, „hat in der deutschen Geistesgeschichte von Goethe über Ranke bis zu Friedrich Meinecke eine unselige Geschichte durchgemacht und sollte im 21. Jahrhundert nicht mehr unreflektiert benutzt werden, weil heute kein ‘deutsches Modell’ mehr weiterhilft, um das ganze Wissen in geordneten Zusammenhängen erklären (nicht verstehen) zu können.“ Was Masing betreibe, sei mithin „gegen alle Aufklärung und Rationalismus gerichtet und kann heute von niemand mehr allen Ernstes gewollt sein“.

Als Ersatzbegriff für das angeblich „deutsche“ und deshalb verdammenswerte Verstehen wird „Erklären“ verordnet. „Erklären“ sei ein echt „aufklärerisches Wort“, erklärt Klaus Ries von der Universität Jena. „Nur über ‘Erklären’ können wir Zusammenhänge erkennen, nicht über intuitives ‘Verstehen’“. Ries behandelt die Wörter „erklären“ und „verstehen“ also als Alternativ- und Konkurrenzwörter, was Pankraz überhaupt nicht verstehen kann. Ja, er kann es sich nicht einmal einigermaßen plausibel erklären.

Es gibt die bekannte Definition eines Dummkopfs. Ein Dummkopf, heißt es, ist einer, der über einen Witz dreimal lacht, das erste Mal, wenn er ihn erzählt bekommt, das zweite Mal, wenn er ihm erklärt wird, das dritte Mal, wenn er ihn verstanden hat. Erklären und Verstehen erscheinen da nicht als Konkurrenzwörter, sondern als Wörter auf zwei völlig verschiedenen semantischen Ebenen. So ist es auch korrekt, kein Grammatiker oder Logiker dürfte etwas dagegen einzuwenden haben.

Ich kriege eine Sache, etwa die Verhältnisse in einem Schwarzen Loch des Weltraums oder die Gefühlslagen einer kapriziösen Dame beim Liebesakt, erklärt, mag sein mit großer Ausführlichkeit und Kompetenz, aber ob ich sie dann verstanden habe, steht auf einem ganz anderen Blatt, ist von vielen inneren und äußeren Zuständen und Zufällen abhängig. Und natürlich spielt dabei die von Ries so gehaßte Intuition eine Rolle. Denn der Mensch ist keine Rechenmaschine, sondern ein Wahrnehmungstier mit größter Gefühls-Klaviatur. Sein Erkennen ist immer eine Mischung aus Erfahrung, Logik und Intuition.

Wilhelm Dilthey (1833– 1911), der große deutsche Lebensphilosoph und Erforscher des Phänomens des Verstehens, sprach vom „Verstehenszirkel“, vom „hermeneutischen Zirkel“. „Ich kann nur unter der Voraussetzung verstehen“, formulierte er, „daß ich bereits verstanden habe“. Natürlich sei das, logisch betrachtet, ein Unsinn, ein circulus vitiosus, aber „der Geist ist nun mal ein geschichtliches Wesen, d.h. er ist von der Erinnerung des ganzen Menschengeschlechtes erfüllt, welches in Abreviaturen in ihm lebt und sich zur Geltung bringen will“.

Nichts Menschliches ist mir fremd, und nichts Menschliches darf mir fremd sein, wenn ich verstehen will. Etwas mir völlig Fremdes kann ich nicht verstehen; das hat schon Platon vor über 2.000 Jahren erspürt, weshalb er jeden neuen Wissenserwerb als „Wiedererinnerung“ beschrieb. Die moderne Hirnforschung springt ihm insofern bei, als sie dem erkundenden Großhirn ein Kleinhirn attachiert, das viel feiner strukturiert ist als jenes, in dem alle Motorik, alle großen Instinkte und Gefühle wohnen und das auch ständig ins „bloß wissende“ Vorderhirn mahnend und regulierend eingreift.

Dort wäre dann wohl auch der Sitz der Intuition, welcher Professor Masing in seinem Aufsatz – zwar zum Ärger von Leserbriefschreiber Ries, aber völlig zu Recht – eine wichtige Rolle beim aktuellen Wissenserwerb an den Schulen zuweist und von der er wünscht, daß die Pädagogen sie mehr beachteten. In der Tat führt ein Lernprozeß ohne Respekt vor der Intuition auf beiden Seiten, bei Lehrern wie Schülern, zu einer geradezu ruchlosen Vertreibung des pädagogischen Eros aus Klassenzimmern und Hörsälen. Es werden nur noch Daten und zugehörige „Erklärungen“ angehäuft ohne jeden weiteren Sinn und Verstand.

Gerade bei der Vermittlung von historischen und sonstigen geisteswissenschaftlichen Fakten sind Verstehen und Intuition unabdingbare Voraussetzung für gutes Lernen. Denn die historischen Fakten sind nicht, wie meistens in der Naturwissenschaft, Resultate von Experimenten, sondern es sind „Quellen“. Nur durch Quellenstudium kann man zur historischen Wahrheit vorstoßen. Die Quellen selbst jedoch sind keine geometrischen Punkte in exakter Versuchsanordnung, sondern es sind Relikte eines immerzu menschlich-allzumenschlichen Fühlens und Wollens.

Es sind einesteils „Überreste“, Waffen, Gebrauchsgegenstände, Akten, Briefe, andernteils „Überlieferungen“ Sagen, Annalen, Chroniken, Bilder, Filme, in die immer schon vorgängig eine bestimmte Perspektive eingeflossen ist. Wer eine mittelalterliche Urkunde zum heutigen Nennwert nehmen wollte, also ihre Worte mit den Bedeutungen von heute auflüde, der wäre peinlich aufgeschmissen. Notwendig ist vielmehr, die Urkunden in den Horizont ihrer Zeit zu rücken, und wie wäre das möglich ohne vorgängiges Verstehen dieser Zeit? Und dieses Verstehen wiederum, wie wäre es möglich ohne lebendiges Mitfühlen, Intuition?

Verzweifelt fragt man sich, wieso Einbeziehung von Hermeneutik und Intuition in den geisteswissenschaftlichen Lernprozeß ein unheilvolles „deutsches Modell“ sein sollen. Wer so etwas behauptet, dem muß noch viel erklärt werden.

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