© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  04/12 20. Januar 2012

Abrechnung mit der alten Elite
Türkei: Fragwürdige Praktiken der Regierung Erdoğan vertiefen den Riß in Politik und Gesellschaft
Günther Deschner

Die spektakuläre Verhaftung des türkischen Ex-Generalstabschefs İlker Başbuğ und die Anklageerhebung gegen den früheren Chef der Militärführung und späteren Staatspräsidenten, Kenan Evren, haben über die Türkei hinaus Aufsehen erregt – und deutlich gemacht, wie tief Gesellschaft und Politik des Nato-Eckpfeilers gespalten . Hintergrund ist der Streit über den seit 2007 laufenden Prozeß gegen das geheime Netzwerk „Ergenekon“, dem Organe der Regierung Erdoğan und die Staatsanwaltschaft vorwerfen, durch Terror Angst und Empörung in die Bevölkerung zu tragen, um einen erneuten Militärputsch zu rechtfertigen.

Mit Başbuğ weitet sich der Kreis der „Putschverdächtigen“ immer weiter aus. Dabei gilt der frühere Armeechef der zweitgrößten Nato-Streitmacht als „Realist“ (so ein Hürriyet-Kommentar), „der wußte, daß das politische Klima der Türkei einen Punkt erreicht hatte, nach dem ein Militärputsch national und international nicht mehr akzeptiert werden würde“. Dem seit 2010 im Ruhestand befindlichen General wird jetzt vorgeworfen, als „Mitglied einer terroristischen Vereinigung“ an einem Umsturzplan gegen die islamisch-konservative AKP-Regierung beteiligt gewesen zu sein.

Er befindet sich in illustrer Gesellschaft: Mehr als 300 Personen – hohe Militärs, Professoren, Uni-Rektoren, Anwälte und Journalisten – sind als Mitglieder oder Unterstützer des angeblichen Geheimbunds, teils seit vielen Jahren, inhaftiert. Auf ein erstes Urteil oder die Präsentation handfester Beweise für die behaupteten Umsturzpläne wartet die türkische Öffentlichkeit bislang vergeblich. Je länger sich der Fall hinzieht, je weiter der Kreis angeblicher Putschisten gezogen und je höher in der gesellschaftlichen und politischen Hierarchie die Festnahmen erfolgen, desto tiefer sinkt die Glaubwürdigkeit des Vorgehens.

Wenngleich Kommentatoren darauf hinweisen, daß auch das türkische Rechtssystem mit dafür verantwortlich sei, daß sich die Prozesse so lange hinziehen, etwa weil die Türkei keine vorläufige Haftverschonung gegen Kaution kennt, werfen Kritiker der Erdoğan-Regierung vor, sie nutze die Verdachtsmomente dafür aus, mißliebige kemalistische Kontrahenten mundtot zu machen – und der ganze Prozeß diene in Wirklichkeit nur dazu, die Machtpositionen der AKP im Justiz- und im Staatsapparat weiter auszubauen.

Wenn es auch richtig ist, daß in einem Land, in dem seit 1960 schon dreimal gegen eine Regierung geputscht wurde, der Verdacht auf Umsturzpläne nicht so einfach nur als Ausgeburt üppig wuchernder Verschwörungsphantasien abgetan werden kann, drängt sich bei vielen doch der Verdacht auf, daß der Fall auch dazu dient, Regierungskritiker mundtot zu machen.

Seit Gründung der Republik durch General Mustafa Kemal „Atatürk“ versteht sich die türkische Armee als Hüterin der weltlichen Prinzipien, die den „Kemalismus“ als Staatsideologie tragen. Als solche kam ihr ein Einfluß zu, der in anderen Demokratien undenkbar ist. Bis heute hat sie eine privilegierte Stellung. In den vergangenen Jahren hatte Ministerpräsident Erdoğan diesen Einfluß etwas zurückdrängen können, doch war die Militärführung immer noch ein Machtfaktor. Es war auch ein offenes Geheimnis, wie sehr die Generäle jene Politiker der islamischen „Gegen-Elite“, die gegenwärtig das Land regieren, mit Verachtung straften.

Atatürk, der Staatsgründer, hatte der Armee ausdrücklich den Auftrag erteilt, nach ihm das von ihm eingeführte politische System zu erhalten. Die Militärs haben sich daran gehalten und bereits dreimal gewählte Regierungen gestürzt – 1960,1971 und 1980. Der Coup vom 12. September 1980 war der blutigste, die Türkei stand am Rande eines Bürgerkrieges. 230.000 Menschen wurden angeklagt, 50 hingerichtet. Hunderte starben in Gefängnissen. Zehntausende flohen. Die Generäle diktierten eine neue Verfassung, deren autoritäre Züge die Türkei prägten.

Mehr als 30 Jahre danach sollen sich der damalige Militärchef Kenan Evren (94) und der Ex-General Tahsin Sahinkaya (86) einem Prozeß stellen. Evren war lange Zeit vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt, doch nach einer Verfassungsänderung im September 2010 entfiel diese Immunität. Seitdem hatten Opfer der Militärherrschaft auf eine Anklage gedrängt.

Fest steht jedoch, daß die ohnehin angenagte Moral der türkischen Militärführung durch die Festnahme Başbuğs und die Anklage Evrens einen weiteren Schlag erlitten hat. Einmal mehr hat die islamische AKP im Machtkampf mit der früheren säkularen Elite, zu der auch die Armeespitze gehört, einen Etappenerfolg erzielt. Der Graben zwischen der islamisch geprägten Regierung und dem säkularen Establishment der Türkei dürfte dadurch noch tiefer werden.

Foto: Vor kurzem noch Sicherheitspartner, nun durch Gefängnismauern getrennt: Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan (l.) spricht am 28. Februar 2010 mit dem Generalstabschef İlker Başbuğ

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