© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Auf verlorenem Posten
Hans-Christof Kraus hat ausgewählte politische Schriften des preußischen Altkonservativen Ernst Ludwig von Gerlach ediert
Roderich Schmitz

Die verdienstvollerweise von Jean-Jacques Langendorf und Günter Maschke inaugurierte „Bibliothek der Reaction“ beim Wiener Karolinger Verlag, die die Klassiker der Gegenaufklärung versammelt, welche den „Ideen von 1789“ die Stirn boten, präsentiert als jüngste Lieferung den preußischen Altkonservativen Ernst Ludwig von Gerlach (1795–1877), Jurist, Parlamentarier und Publizist vor allem für die Kreuzzeitung, der editorisch zuletzt in den 1960er Jahren bei Hans-Joachim Schoeps und Hellmut Diwald in wahrlich sehr guten Händen lag. Gemeinsames Thema dieser drei im Evangelischen Verein zu Berlin gehaltenen Vorträge ist das Verhältnis von „Autorität und Freiheit“.

Staat und Familie gelten Gerlach als die „immer gegenwärtigen Urformen“, in denen sich die göttliche Ordnung hierarchisch manifestiert. Der Gehorsam des unmündigen Kindes gegenüber dem Vater bzw. des Untertanen gegenüber dem Monarchen hat jedoch nichts Erniedrigendes, vielmehr adelt jener den Dienenden, sofern und solange die Macht, der man sich anvertraut, legitim ist. Die neuzeitliche Empörung gegen diese findet Gerlach zwar bedauerlich, aber durchaus verständlich, begnügt er sich doch nicht – im Unterschied zur Linken – mit simplen Schuldzuweisungen.

Für ihn hat der Absolutismus letztlich selbst die Revolution zu verantworten, indem er oftmals nicht viel mehr als eine „Karikatur“ des Gottesgnadentums darstellte. Gerlach bewertet positiv zum einen die „Augsburgische Confession“ von 1530, die den protestantischen Fürsten zum Wohle ihrer Schutzbefohlenen einen „gerechten“ Krieg sogar gegen den Kaiser zubilligte; zum anderen die englische Umwälzung von 1688, die „aus speziellen Beschwerden hervorging“ und die „Abwehr schwerer Rechtskränkungen zum Zweck“ hatte.

Daß Gerlach „einer der konsequentesten Gegner der modernen Welt“ gewesen sei, wie der Buchumschlag behauptet, wird man daher bloß mit erheblichen Einschränkungen akzeptieren können. Denn gerade vom Christen heißt es bei ihm, dieser sei „kein nörgelnder laudator temporis acti, vielmehr ein Mann des Fortschritts“. Dazu paßt es, wenn er an anderer Stelle sagt: „Auch wir sind weichherziger als unsere Vorfahren, auch wir genießen die Segnungen der sanfteren Zeit.“ Schließlich die überraschende, scheinbar paradoxe Formulierung: „Jeder Sieg über die Kräfte der Natur (…) ruft uns auf zur Anbetung Gottes.“

Nur mit Wehmut dürfte man heutzutage Gerlachs Erörterungen über die allgemeine Wehrpflicht als „fester Stütze (…) des Vaterlands“ lesen, bei denen er dem ideologischen Kontrahenten seinen Respekt bezeugt: „Auch diese Institution hat, wie so vieles in den Freiheitskriegen, ihren Ursprung in den edleren Elementen des Liberalismus jener Zeit“. Wenn deshalb ein nachgeborener Liberaler wie Heinrich von Treitschke den konservativen Gerlach verhöhnte, so gerät eher der Spötter ins Zwielicht als der Verspottete, denn das vermeintlich Anachronistische bei Gerlach ist eben seine Generosität, das Bemühen, auch dem politischen Antipoden das Gute nicht rundweg abzusprechen. So schreibt er einmal: „Unsere Gegner, die Demokraten und Pantheisten, sind von einem glühenden Menschheitsbewußtsein beseelt. Brünstig jagen sie ihren weltlichen und fleischlichen Idealen nach. Diese Inbrunst macht sie so stark. Denn nichts ist praktischer und mächtiger in dieser Zeit als das Ideal, nach welchem ein energischer heißer Glaube sich ausstreckt.“ Man ersetze in obigem Zitat „Demokraten und Pantheisten“ durch 68er, und die Analyse klingt erstaunlich aktuell: Das Versprechen des Sozialismus wirkt nämlich, weil dieser – nicht etwa in betrügerischer Absicht, sondern verblendet – als Ersatzreligion auftritt.

Hellhörig machen müssen bei Gerlach die bewundernden Passagen über Großbritannien, welches er den Deutschen indirekt als eine Art Vorbild empfiehlt. Geradezu emphatisch wird Queen Victoria beschworen, ein Muster an asketischer Pflichterfüllung und Aufopferungsbereitschaft, die darin beinahe dem Alten Fritz gleichkommt: „Sie bewahrt ihren Thron auf für künftige gekrönte Staatsmänner und Helden, welche zu erwecken ein Reservatrecht des Königs aller Könige ist.“

Hier greift nun das nicht zuletzt biographisch informative Nachwort des Passauer Historikers Hans-Christof Kraus (der außerdem 14 Seiten nützlicher historischer Anmerkungen samt Bibliographie beigesteuert hat), weil Gerlachs jetzt wiederabgedruckte Referate vor seinem Konflikt mit Bismarck liegen, als dessen Mentor er sich anfangs glaubte sehen zu dürfen, wohl in der Hoffnung, die heimische Krone ähnlich unangefochten halten zu können, wie dies unter Königin Victoria und ihrem Ratgeber Disraeli der Fall zu sein schien. Doch erwies sich das spätestens mit dem von Preußen herbeigeführten Ende des Deutschen Bundes und dem nach der Reichsgründung einsetzenden Kulturkampf als komplette Illusion. Gerlach geriet wegen der „Ausstoßung Österreichs aus Deutschland“ in schärfste Opposition zu Bismarck und nahm 1874 seinen Abschied, ohne ein Wort des Dankes für seine jahrzehntelange Treue von Kaiser Wilhelm I. zu empfangen.

Der Herausgeber nennt Gerlach einen „politischen Theologen“. Vielleicht bezeichnet man ihn besser als Fundamentalisten, der dennoch nicht zum Fanatiker wurde – eine an sich schon imponierende Leistung, bei der man sich unwillkürlich fragt, ob sie im Rahmen einer anderen Religion als dem Christentum denkbar wäre. Jedenfalls wünscht man sich als einen der nächsten Bände der „Bibliothek der Reaction“ unbedingt ausgewählte Schriften von Gerlachs vielzitiertem Amtsvorgänger, Friedrich Julius Stahl, am besten besorgt von Günter Maschke, der dann erklären mag, welches Problem Carl Schmitt mit diesem hatte.

Hans-Christof Kraus (Hrsg.): Ernst Ludwig von Gerlach. Gottesgnadentum und Freiheit. Ausgewählte politische Schriften aus den Jahren 1863 bis 1866. Karolinger Verlag, Wien 2011, gebunden, 142 Seiten. 19,90 Euro

Foto: Ernst Ludwig von Gerlach: Wegen der „Ausstoßung Österreichs aus Deutschland“ in Opposition zu Bismarck