© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Die Mär von der sowjetischen Intervention
Moderne Geschichtsmythen: Die Erklärung des Kriegsrechtes in Polen vor dreißig Jahren kam keinem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten zuvor
Tadeusz Nieznanski

In seinen Erinnerungen schrieb der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt über die Verhängung des Kriegsrechts in Polen am 13. Dezember 1981: „Der polnische Primas und die katholischen Kreise Polens insgesamt sind der Meinung, Jaruzelski sei damit einem unmittelbar bevorstehenden sowjetischen Eingreifen zuvorgekommen.“ Eine entsprechende Information übermittelte damals dem Kanzler der Essener Bischof, Franz Kardinal Hengsbach. Schmidt selbst teilte diese Meinung wohl auch noch 1996, als seine „Weggefährten. Erinnerungen und Reflexionen“ erschienen.

Mit dieser Überzeugung stand und steht Helmut Schmidt nicht alleine. Den Umfragen zufolge glaubt selbst in Polen die Mehrheit der Bevölkerung, General Wojciech Jaruzelski hätte im Dezember 1981 eine militärische Intervention der UdSSR abgewendet. So gesehen wäre das Kriegsrecht das kleinere Übel. Interessanterweise verbreitete sich diese Meinung erst Mitte der 1990er Jahre, als eine Kommission des polnischen Parlaments die verfassungsrechtliche Verantwortung für das Kriegsrecht untersuchte, um gegebenenfalls dessen „Urheber“ vor ein Staatstribunal zu stellen. Die Anklage wurde damals nicht erhoben. Das von General Jaruzelski vorgebrachte Argument einer Notsituation wurde als Rechtfertigung akzeptiert, wobei das Hauptelement dieser Verteidigungstaktik der im Dezember 1981 angeblich bevorstehende sowjetische Einmarsch war. Jüngst war er sogar wieder Gast im Palast des Präsidenten der Republik Polen. „Als Kenner der russischen Politik“ – wie es offiziell hieß.

Unterdessen wurden inzwischen zahlreiche Dokumente zutage gefördert, die Auskunft über den tatsächlichen Stand der Beziehungen zwischen Moskau und Warschau vor dreißig Jahren geben. Was die Gefahr einer militärischen Intervention der Sowjetunion anbelangt, weicht der Inhalt archivalischer Überlieferungen wesentlich von dem durch Medien und Erinnerungsliteratur geschaffenen Bild ab. Auch die Veröffentlichungen anläßlich des 30. Jahrestages der Einführung des Kriegsrechts im vergangenen Dezember brachten insofern keine wesentlichen Änderungen. Bisweilen entsteht sogar der Eindruck, daß eine Hinterfragung der politisch korrekten Deutung der neuesten Geschichte nicht erwünscht ist.

Das Bild über die Umstände der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 ist nach Aktenlage kohärent: Weder in den sowjetischen noch in den polnischen Archivbeständen konnte ein Beleg dafür gefunden werden, daß Moskau 1981 die polnische Führung durch Androhung einer militärischen Aktion zur Verhängung des Kriegsrechts gedrängt hätte. Derselbe Schluß ist aus den gut erschlossenen DDR-Dokumenten zu ziehen: In den Akten der SED und des Ministeriums für Nationale Verteidigung finden sich zahlreiche Unterlagen, die sowohl die Rolle der Sowjets bei der Unterdrückung der Solidarność, wie auch die Problematik des Eingreifens des Warschauer Vertrags erläutern.

Doch das Fazit, das aus den archivalischen Quellen hervorgeht, läßt eher darauf schließen, daß Moskau sich im Dezember 1981 geweigert hat, den Bitten der polnischen Genossen um militärische Unterstützung zu entsprechen. Überdies hätte erst die Verhängung des Kriegsrechts einen Einmarsch der sowjetischen Streitkräfte gebieten können, nämlich dann, wenn die polnischen „bewaffneten Organe“ allein es nicht geschafft hätten, Solidarność zu zerschlagen. Um entsprechende Garantien ersuchten die polnischen Generale inständig aber vergebens. Und Moskaus „Njet“ verzögerte die Verhängung des Kriegsrechts.

Die Sowjets verfolgten nämlich konsequent den Kurs, der auf dem Gipfeltreffen des Warschauer Pakts am 5. Dezember 1980 in Moskau festgelegt worden war: Ein militärisches Eingreifen war ausgeschlossen worden; man hatte sich darauf geeinigt, daß die polnischen Genossen selbst die Offensive „gegen die Konterrevolution“ entfalten müssen und dabei auf Unterstützung der „Bruderländer“ rechnen können. Der Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, hatte betont, daß die sozialistischen Freunde die Volksrepublik Polen nicht im Stich lassen würden.

Als in den folgenden Monaten die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PZPR) jedoch die versprochene Offensive vermissen ließ und durch interne Konflikte wegen des richtigen Kurses immer schwächer wurde, wuchs die Beunruhigung in den Nachbarländern zusehends. Zwar deuten archivalische Quellen darauf hin, daß Ende März 1981, anläßlich der in Polen abgehaltenen Übung des Warschauer Pakts „Sojus-81“, ein entschiedenes Durchgreifen gegen „Solidarność“ vorbereitet worden war: Parteichef Stanisław Kania und Premierminister Jaruzelski baten die Sowjets um Verlängerung der Manöver; die massive Präsenz der Truppen der drei Nachbarländer war eine geeignete Kulisse für „konsequente Maßnahmen“.

Ein Plan dazu lag ebenfalls vor, wurde jedoch nicht umgesetzt. Der Oberkommandierende der Streitkräfte des Warschauer Vertrags, Marschall Wiktor Kulikow – damals ein häufiger Gast in Polen – beklagte sich im Gespräch mit der Führung der Nationalen Volksarmee der DDR: „Die polnischen Genossen vertreten die Meinung, daß andere für sie Aufgaben erfüllen sollen.“ Kulikow selbst wies die Polen darauf hin, daß sie allein zuerst versuchen müßten, „Probleme zu lösen“, und erst wenn dies nicht gelänge, mit Hilfe von außen gerechnet werden könne.

Im Mai 1981 fand in Moskau ein damals geheimgehaltenes Treffen der drei Parteichefs aus Polens Nachbarländern statt. Breschnew erklärte, daß die polnische Führung versage und ausgewechselt werden müsse. Man sah aber keine Alternative zu Kania, weil die „gesunden Kräfte“ innerhalb der PZPR über keine geeignete Persönlichkeit verfügten. Es blieb den „Bruderländern“ nichts übrig, als diese Kräfte weiterhin zu stärken. Breschnew erwähnte noch ein Mittel, das sich später als durchaus probat erweisen sollte: Die UdSSR, als der Hauptlieferant von Erdöl und Rohstoffen nach Polen, habe noch die Möglichkeit, Warschau wirtschaftlich unter Druck zu setzen.

Der IX. außerordentliche Parteitag der PZPR (14. bis 27. Juli 1981) bestätigte die schlimmsten Befürchtungen der Nachbarn: Die polnische Partei driftete weiterhin „nach rechts“, viele treue Marxisten-Leninisten schieden aus den Führungsgremien aus, die Partei verlor endgültig die Fähigkeit, den Sozialismus zu verteidigen. Breschnew konstatierte, daß die polnischen Genossen keine Be- reitschaft zum Kampf gegen Solidarność zeigten und äußerte zugleich einen Gedanken, der seine frühere Erklärung vom 5. Dezember 1980 richtig auszulegen hilft: „Wird Polen sozialistisch sein, werden unsere Beziehungen internationalistisch sein. Wird es einen anderen Weg gehen, so wird auch der Charakter dieser Beziehungen sowohl auf staatlichem als auch politischem und auf dem wirtschaftlichen Gebiet anders sein.“

Am 5. September 1981 richtete Soli-darność eine Botschaft an die Werktätigen Osteuropas. In den kommunistischen Staaten wurde dies als ein Versuch der Übertragung der Konterrevolution auf andere Ländern aufgefaßt. Selbst die „gesunden Kräfte“ in Polen sahen nun die letzte Möglichkeit der Rettung des Sozialismus im Eingreifen der Nachbarstaaten. Auf einem Treffen mit einer SED-Delegation Anfang Oktober erläuterte das Mitglied der sowjetischen Politbüros, Oleg Rachmanin, die Haltung Moskaus: „Unsere Position bleibt bestehen – wir werden das sozialistische Polen nicht im Stich lassen. Wer aber, wenn nicht die Polen selbst, soll die entscheidende Konfrontation tragen? Sollen sie doch selbst etwas tun, wir werden sie unterstützen.“

Überdies lief gleichzeitig eine Aktion, die eine Wende in Polen herbeiführen sollte. Moskau entdeckte nun in General Jaruzelski den Mann, der bereit war, den Sozialismus aktiv zu verteidigen. Der Mechanismus des Wechsels an der PZPR-Spitze ist aus dem überlieferten Gespräch des Mitglieds des KPdSU-Politbüros, Konstantin Rusakow, mit Erich Honecker vom 21. Oktober bekannt. Die Sowjets merkten, daß sich in der letzten Zeit zwischen Kania und Jaruzelski eine Differenzierung in der Haltung zu „prinzipiellen Fragen“ bemerkbar machte und der letztere bereit war, gegen die Konterrevolution hart vorzugehen. Obwohl der General immer noch schwankte, erinnerten ihn die „guten Genossen“ an die Notwendigkeit der Rettung der Volksrepublik. Auf dem ZK-Plenum am 18. Oktober 1981 ersetzte Jaruzelski Kania an der Parteispitze.

Indessen enttäuschte der General die zuerst auf ihn gesetzte Hoffnung. Jetzt griffen die Sowjets zur wirtschaftlichen Knute. Im November 1981 kündigten sie Jaruzelski drastische Kürzungen der Lieferungen von Erdöl, Erdgas und anderen Rohstoffen an, was den totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch Polens nach sich ziehen würde. Am 27. November interpretierte der damalige Minister für Gewerkschaftsfragen, Stanisław Ciosek, in einem Gespräch mit dem DDR-Botschafter in Warschau, Horst Neubauer, die neu entstandene Lage so: „Jaruzelski steht jetzt vor der Wahl, entweder nicht zu kämpfen und das Volk in die Katastrophe zu treiben oder loszuschlagen und die Wirtschaftshilfe zu erhalten. Ob er will oder nicht, jetzt ist er endlich zum Handeln gezwungen.“

In der Tat, auf der Sitzung des PZPR-Politbüros am 5. Dezember 1981 erklärte Jaruzelski, daß die Vorbereitung der Aktion gegen die Konterrevolution „noch heute beginnt“ und daß neben ihm selbst die Generale Czesław Kiszczak (Innenminister), Florian Siwicki (stellvertretender Verteidigungsminister) und der im Politbüro für Sicherheitsfragen zuständige General Mirosław Milewski konkrete Maßnahmen in Angriff nehmen würden. Ein Dokument aus dem polnischen Innenministerium, am gleichen Tag datiert, spricht im Falle eines massiven Widerstandes von Hilfe der Streitkräfte des Warschauer Vertrags.

Auf Jaruzelskis Geheiß rief Milewski am 10. Dezember den sowjetischen Botschafter in Warschau, Boris Aristow, an und „stellte Fragen“. Eine lautete: „Können wir auf Hilfe der UdSSR im militärischen Bereich rechnen?“ Die Antwort aus Moskau kam prompt: „Wir marschieren mit unseren Truppen nicht ein.“ Der letzte dramatische Versuch, den Sowjets eine Zusage der brüderliche Hilfe abzupressen, unternahm General Siwicki. Am 11. Dezember war er, im Auftrag von Jaruzelski, bei Kulikow vorstellig. „Wir können nicht das Abenteuer beginnen, wenn die sowjetischen Genossen uns nicht unterstützen“, erklärte der polnische General und fuhr fort: „Ohne politische, wirtschaftliche und militärische Hilfe seitens der UdSSR kann unser Land für den Warschauer Vertrag verlorengehen.“ Moskaus Haltung änderte dies nicht. Die Sowjets pokerten hoch, da sie sich der Gefahr bewußt waren. Selbst die Evakuierung der sowjetischen Botschaft wurde vorbereitet.

In den Abendstunden des 13. Dezember 1981 telefonierte Jaruzelski mit Breschnew. Schon am nächsten Tag begannen die Sowjets mit den Zusatzlieferungen nach Polen, und der sowjetische Premierminister Tichonow appellierte telefonisch an die Führer von sozialistischen Staaten, die polnischen Genossen wirtschaftlich zu unterstützen. Die Rechnung der Sowjets ging auf. Drei Tage zuvor war Bundeskanzler Schmidt zu seinem historischen Besuch in der DDR bei Erich Honecker an Werbellinsee und in Güstrow. „Es wird die höchste Zeit, daß man begonnen hat, in Polen Ordnung zu machen“, kommentierte der Kanzler nach Honeckers Bericht, daß gerade in Polen das Kriegsrecht verhängt worden sei. Auch mit dieser Einschätzung stand Helmut Schmidt nicht allein. Die Haltung der westeuropäischen Staaten zum Sowjetblock war seit Jahren stark durch die Befürchtung einer Destabilisierung im Osten geprägt.

Auch unter Bundeskanzler Kohl blieb diese Politik unverändert. Im Mai 1982 richtete eine Gruppe polnischer Intellektueller, die entweder schon seit 1945 im Exil lebten oder gerade zum Zeitpunkt der Verhängung des Kriegsrechts im Westen weilten, einen Appell an die Bundesrepublik, mit dem sie – im Glauben an die Zukunft und an „unsere und Eure Freiheit“ – einen Dialog zwischen Deutschen und Polen einleiten wollten. Obwohl die politische Unterstützung für die antikommunistische Bewegung an der Weichsel von Seiten der offiziellen Bonner Politik danach nicht über verbale Bekundungen hinausging, entwickelten sich allerdings die frostigen Beziehungen zwischen der polnischen und westdeutschen Bevölkerung sehr positiv.

Grund dafür war massive humanitäre Hilfe der Bundesbürger für die notleidenden Polen. Diese Aktion baute viele antideutsche Ressentiments ab. Anläßlich des 30. Jahrestages des Kriegsrechts in Polen wurde die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, seinerzeit nicht nur von der polnischen Regierung des Revisionismus bezichtigt, mit einem hohen polnischen Orden ausgezeichnet. Indes war die IGfM nicht nur an der Aktion „Pakete für Polen“ beteiligt, sondern unterstützte auch die antikommunistische Opposition, vor allem die im Untergrund agierenden Strukturen von Solidarność. In dieser Hinsicht tat die IGfM für die – seit Oktober 1982 dann auch formell verbotene – Gewerkschaft wohl mehr als der mächtige Deutsche Gewerkschaftsbund.

Foto: Unruhen in Polen 1981, General Jaruzelski proklamiert das Kriegsrecht im Staatsfernsehen: „ Wir marschieren nicht ein“