© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Ohne Nationalstaat kein Sozialstaat
Das solidarische Wir
Jost Bauch

Milliardenschwere Rettungsschirme und Transferzahlungen sollen das wirtschaftlich marode Griechenland retten. Vom Bürger und Steuerzahler der noch zahlungsfähigen EU-Länder wird erwartet, daß er Solidarität übt mit einem reformunwilligen, korrupten Alimentationsstaat, der an seine Bürger sozialstaatliche Leistungen in einem Ausmaß ausschüttet, von dem die Bürger der Geberländer nur träumen können. Die Politiker setzen dabei auf ein „gesamteuropäisches Solidaritätsempfinden“, das aber, wie die demoskopische Meinungsforschung zeigt, empirisch bei den „EU-Bevölkerungen“ gar nicht oder nur ansatzweise vorhanden ist.

Die von den herrschenden Politikern avisierte Transferunion setzt aber ein solches gesamteuropäisches Solidaritätsempfinden voraus, ohne dieses wird jede Transferleistung als Zumutung und Ärgernis empfunden, womit die Idee der europäischen Integration insgesamt gefährdet wird. Mithin stellt sich für das Modell der Transferunion die existentielle Frage, ob es so etwas wie ein gesamteuropäisches Solidaritätsempfinden überhaupt geben kann, ein Solidaritätsempfinden, das so stark sein muß, daß es die finanzielle Daueralimentierung von wirtschaftlich schwachen EU-Staaten rechtfertigt.

Wie die neuesten Befunde der Meinungsforschung belegen, wird offensichtlich die der Bevölkerung zugemutete Solidarität in Sachen EU-Finanzierung überdehnt. Es gibt Grenzen der Solidarität. Schon Max Weber hat erkannt, daß sich Solidaritätszumutungen nur im und bis zum Nationalstaat realisieren lassen: „Allein die Nation kann die innere Bereitschaft der Menschen wecken, sich solidarisch und selbstlos für das Gemeinwesen einzusetzen.“ In seinem Jahrhundertwerk „Wirtschaft und Gesellschaft“ definiert er „Nation“ über das Solidaritätsempfinden. Nation besagt, „daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei“.

Die Nation über das Solidaritätsempfinden zu definieren, ist erst einmal verwunderlich. Solidarität ist ja zunächst etwas, was sich in sozialen Kleingruppen einstellt. Solidarität gehört nach Arnold Gehlen zu den Tugenden des Sippenethos. Sie setzt eine gemeinsame und gemeinschaftliche Interaktionsgeschichte voraus. Weil man sich kennt und schätzt, weil man familial verbunden ist, hilft man sich gegenseitig im Notfall. Auch beim Solidaritätsempfinden handelt es sich nach Gehlen um eine „Elargierung von Instinktresiduen“, eine Ausdehnung des ursprünglichen Sippenethos oder von Verhaltensregulationen innerhalb der Großfamilie.

Solidarität ist so zunächst an Gemeinschaft gebunden. Bei der Entstehung des Sozialstaates durch die Sozialversicherungen bildeten sich staatlich induzierte und strukturell institutionalisierte Solidaritätsformen heraus, die die interaktionsnahe Solidarität von Gemeinschaften ergänzen sollten. Der Sozialstaat blähte sich bald so sehr auf, daß er teilweise die gemeinschaftlich ausgeübte Solidarität gleichsam erstickte, beispielsweise wurde vielfach die in Familien ausgeübte Pflege von Angehörigen durch eine Pflegeversicherung ersetzt.

Spätestens seit Bismarck war Solidarität eine Sache des Nationalstaates. Dieser ist nach Max Weber als autonomer, politischer Herrschaftsverband mit rationalem Anstaltscharakter zu verstehen und besteht aus drei Elementen: aus einem ausdifferenzierten Territorium, einem Staatsvolk und einem Gewaltmonopol, legitimiert durch eine legale Herrschaft mit bürokratischem Verwaltungsstab. Das staatliche Gewaltmonopol kann Solidaritätsformen erzwingen, gerade deshalb haben die sozialen Sicherungssysteme, aber auch das Steuersystem Zwangscharakter und verpflichten jeden Staatsbürger, sofern er arbeitet, zu Zwangsabgaben.

Dabei geht es nicht um eine kasuistische Einzelfallsolidarität – also darum, in einem besonderen Notfall einer bestimmten Person oder Personengruppe auf Zeit zu helfen –, sondern um eine institutionell abgesicherte Dauersolidarität. Um diese zu gewährleisten, so die Kritiker des Nationalstaates wie Jürgen Habermas, Ulrich Beck, Richard Münch, Michael Zürn und andere, muß der Staat Gemeinschaft fingieren, er muß die Bevölkerung als eine „imaginäre Einheit“ sehen. Der Nationalstaat muß, so Jürgen Habermas, „eine abstrakte Solidarität unter Fremden stiften, die zusammengewürfelte Bevölkerungen als Staatsbürger wechselseitig füreinander verpflichtet und miteinander verbindet“.

Richtig daran ist, daß die Bildung von Nationalbewußtsein für eine Nation unverzichtbar ist. Mit den Worten des Historikers Otto Dann: „Wir verstehen darunter den Prozeß einer kollektiven politischen Bewußtwerdung, in dem die Mitglieder eines Volkes beziehungsweise die Bewohner eines Territoriums entdecken, daß sie gemeinsame Traditionen und Interessen haben, daß sie eine Solidargemeinschaft sind.“ Das Solidaritätsempfinden beruht in diesem Fall nicht auf interaktionsbasierten gemeinschaftlichen Erfahrungen, gleichwohl ist dieses Solidaritätsempfinden nicht imaginiert und fiktiv, wie uns das die selbsternannten Überwinder des Nationalstaates weismachen wollen, es ist höchst real.

Gemeinschaftliche Erfahrungen der direkten Interaktion werden auf der Ebene des Nationalstaates durch gemeinsame Sprache, Kultur, Tradition und ein gemeinsames Schicksal (Schicksalsgemeinschaft) substituiert. Dies sind die Bindeglieder, die Solidaritätszumutungen als berechtigt erscheinen lassen und die Bereitschaft dazu innerhalb einer Bevölkerung bestimmen. Nach Max Weber ermöglicht vor allem das Nationalbewußtsein die „Umdeutung von rationalen Vergesellschaftungen in persönliche Gemeinschaftsbeziehungen“. Nur so ist es zu verstehen, daß nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen von ostdeutschen Vertriebenen im Westen Deutschlands eine neue Heimat fanden; und nur so ist es auch zu verstehen, daß nach der Wiedervereinigung 1990 der Aufbau Ost mit einem „Solidaritätszuschlag“ finanziert werden konnte.

Der Solidaritätsgedanke ist in der Bundesrepublik so weit ausgeprägt, daß zumindest auf Länderebene die finanziellen Verhältnisse relativ gleich strukturiert sein sollen. Artikel 107 des Grundgesetzes schreibt vor, daß durch einen Länderfinanzausgleich „die unterschiedliche Finanzkraft der Länder angemessen auszugleichen ist“. Angestrebt werden dadurch annähernd gleiche Lebensbedingungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Die im Nationalstaat organisierte Solidarität umfaßt nicht nur sozialstaatliche Hilfen, sie bezieht sich auch auf die Gestaltung der materiellen Lebensbedingungen.

Die Gegner des Nationalstaates glauben nun, daß die Nationalstaaten infolge der Globalisierung einen Souveränitätsverlust erleiden und letztlich eine Weltinnenpolitik an die Stelle des internationalen Völkerrechtes tritt. Die „global citizenship“ (Weltbürgerschaft) soll die Staatsbürgerschaft ersetzen. Die nationalstaatlichen Regierungen werden durch transnationale, „weltzivilisatorische“ Akteure und Organisationen (NGOs) abgelöst. Am Ende dieser Vi-
sion stünde „governance without government“ (Regieren ohne Regierung). Auf dem Weg dorthin wird als anschlußfähiges Modell die Errichtung eines supranationalen europäischen Föderal- und Bundesstaates empfohlen.

Dieses transnationale Modell muß unterstellen, daß sich auch durch die „Weltbürgerschaft“ ein weltweites Solidaritätsempfinden etabliert. Ein solches Solidaritätsempfinden bewegt sich allerdings nur auf der Stufe einer „Event-Solidarität“ (Hilfe in Katastrophenfällen) oder als Hilfe in strukturellen Notlagen (Entwicklungshilfe), sie ist nicht vergleichbar mit der institutionalisierten Dauersolidarität innerhalb der Nationalstaaten. Jürgen Habermas stellt sich in diesem Zusammenhang immerhin die „beunruhigende Frage, ob überhaupt eine demokratische Meinungs- und Willensbildung über die nationalstaatliche Integrationsstufe hinaus bindende Kraft erlangen kann“. Dies betrifft auch die Frage nach den Organisationsformen von institutionalisierter Solidarität.

Und der Soziologe Michael Greven vermerkt über die neuen „Weltbürger“, daß „ihr über spezielle Interessen, Motive und Anlässe zeitweiliger Aktivität hinausgehendes Engagement in der politischen Entwicklung der Demokratie und des Gemeinwesens, das sie erst zum citoyen machen würde, gering ist“. In altmodischen römischen Begriffen gesagt, fehle ihnen der Patriotismus, meint Greven. Auch der Hagener Soziologe Stefan Lange geht mit den Überwindern des Nationalstaates hart ins Gericht: „Aus dem historischen Schattenreich der erzwingenden Akteure bietet sich auch unter den Rahmenbedingungen, die die Globalisierung schafft, nur einer als human verträglich an: der demokratisch verfaßte Nationalstaat.“

Patriotismus und Solidarität, so der Befund, sind an die Organisation des Nationalstaates gebunden. Jedenfalls ist im Augenblick kein gesamteuropäisches Solidaritätsempfinden in Sicht, das dem einer nationalstaatlichen Solidarität gleichkäme. Auch wenn sich die Europäer zunehmend als Europäer fühlen, so ist dieses identitätsstiftende Gefühl nicht so groß, daß es auf Dauer institutionalisierte Transferleistungen aus der Sicht der involvierten Völker legitimiert.

Dies hängt damit zusammen, daß es keine korrespondierenden Einflußmöglichkeiten der Geberländer auf die Nehmerländer gibt. Außer Appellen und Sparversprechen, die dann auch nur unzureichend realisiert werden, bleibt wenig, um politisch einzugreifen und den maroden Volkswirtschaften in Südeu-
ropa auf die Sprünge zu helfen. So gesehen hat die Einführung des Euro eben nicht der Völkerverständigung gedient, sondern ihr geschadet. Denn die Geberländer sind über den Schlendrian der Nehmerländer verärgert, wohingegen die Nehmerländer jede Auflage zur Kreditgewährung als eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten betrachten und einen neuen Euro-Imperialismus heraufdämmern sehen.

Die Transferunion stiftet Unfrieden! Eurokratisch verblendete Politiker stürmen voran, um einen supranationalen europäischen Bundesstaat zu schaffen. Sie glauben, daß sich mit der Etablierung einer gesamteuropäischen Regierung uno actu auch das Solidaritätsempfinden der europäischen Völker europäisieren würde. Sie ahnen immerhin ihren Irrtum, denn sonst würden sie diesen Transformationsprozeß der EU in einen Bundesstaat demokratisch legitimieren lassen. Das Ergebnis solcher Wahlen wäre für die Eurokraten niederschmetternd: Die europäischen Bürger wollen einen föderalen Staatenbund und keinen zentralistischen Bundesstaat.

Die postnationalen Vorstellungen eines „Transnationalstaates“ (Ulrich Beck) und des „komplexen Weltregierens“ (Michael Zürn) erweisen sich als schlechte Utopie. Der Nationalstaat bleibt die wesentliche Adresse, die die demokratische Selbstbestimmung der Völker achtet, kollektive Entscheidungen ermöglicht und auf Dauer gestellte Solidaritätsformen aktiviert.

 

Prof. Dr. Jost Bauch, Jahrgang 1949, lehrt Medizinsoziologie an der Universität Konstanz und ist Vizepräsident des Studienzentrums Weikersheim. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Krise des Kapitalismus („Zähmt das Raubtier“, JF 44/11).

Jost Bauch: Der Niedergang. Deutschland in der globalisierten Welt. Schriften wider den Zeitgeist, Ares Verlag, Graz 2010. Das Buch fragt nach dem Überleben einer Nation im globalen Zeitalter, beschreibt Problemlagen und Gegenstrategien.

Foto: Im Auflösungsprozeß: Europas Nationalstaaten drohen alle Kernkompetenzen an Brüssel zu verlieren