© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Nationale Selbstbehauptung
Frankreich: Dauernde Konflikte um die Bedeutung Jeanne d’Arcs
Karlheinz Weissmann

Im Jahr 1929 hielt Charles Maurras einen Vortrag vor den jungen Damen seiner Action Française (AF) über die „Politik der Jeanne d’Arc“. Das Thema war bemerkenswert, nicht wegen der Figur, auf die Bezug genommen wurde – es gab keine glühenderen Verehrer der „Jungfrau von Orléans“ als die Angehörigen der AF –, sondern weil Maurras es sich mit seinem Thema nicht leichtgemacht hat. Denn so sehr er auch ihre Reinheit, Frömmigkeit und Vaterlandsliebe betonte, es blieb für den Royalisten eine Anfechtung, daß Karl VII. eine so schwache Figur unter den Herrschern Frankreichs war, daß der roi-libérateur, der „König-Befreier“, überhaupt einer Helferin bedurfte.

So blieb nichts anderes übrig, als den Zusammenhang ins Allgemeine zu weiten, war die „Politik der Jeanne d’Arc“ eigentlich nur eine Vorwegnahme der Politik von Charles Maurras: Verteidigung des „ewigen Frankreich“, seiner Einheit und Homogenität, deren Symbol nur der Monarch im idealen Verständnis, nie eine konkrete historische Person wie Jeanne d’Arc sein konnte.

Die intellektuellen Probleme, die in dem Vortrag diskutiert wurden und die Art, in der Maurras das tat, mögen dem heutigen Leser merkwürdig erscheinen. Beides erklärt sich aber daraus, wie verschieden die Bilder der Jeanne d’Arc im französischen Kollektivbewußtsein waren. Als 1920 endlich ihre lange betriebene Heiligsprechung vollzogen wurde, galt sie in ihrer Heimat kaum jemandem nur als religiöses Vorbild. Den meisten war sie Patriotin schlechthin, oder, wie der Schriftsteller Léon Bloy sagte, fleischgewordene Abwehr der „stinkenden Lutheraner“ jenseits des Rheins und des „schmutzigsten Volks der Erde“ jenseits des Kanals, oder la pucelle, das Mädchen aus dem Volk. Das Nebeneinander dieser Entwürfe hatte zu tun mit einem Symbolkampf, der die politischen Auseinandersetzungen im Frankreich des 19. Jahrhunderts dauernd begleitete. So wie man um die Marseillaise und die Trikolore und die Marianne stritt, so stritt man auch um Jeanne d’Arc.

Bis zur Französischen Revolution war die „Johanna von Orléans“ zwar eine populäre Figur, aber noch ohne die Bedeutung, die sie später erhalten sollte. Soweit ihre Verehrung durch den Glauben an die Stimmen, die sie berufen hatten, oder die Vorstellung von Gottes direktem Eingreifen motiviert war, lehnte die Linke sie ab. Aufklärer wie Voltaire oder Montesquieu hatten über ihre Visionen und ihre Einfalt gespottet, während der Revolution schmolz man ihr Standbild in Paris ein, um Kanonenrohre für den Kampf gegen die Fürsten Europas zu machen. Allerdings war die ablehnende Haltung nicht einhellig. Es gab früh auch die, die ihre Gestalt säkularisieren und demokratisieren wollten, die die religiösen Aspekte beiseite wischten, sie aber als geeigneten Anknüpfungspunkt für eine Geschichtsrevision betrachteten, da Jeanne d’Arc nichts als eine Bauerntochter gewesen war, der es trotzdem gelang, was dem König und den Großen nicht gelang: das Land vor dem Feind zu retten.

Jeanne d’Arc konnte so fast wie eine Zwillingsschwester der Marianne erscheinen, jener jungen Frau mit Jakobinermütze, die das republikanische Frankreich verkörperte. Allerdings war dieser Entwurf wesentlich weniger erfolgreich als die Vorstellung von der Jeanne d’Arc als Gegen-Marianne, die „Heilige Jungfrau“ – eine leicht verständliche Anspielung im marienfrommen Frankreich – im Kontrast zur „Schlampe“ Republik, Inkarnation der Ideen von 1789. Entsprechend hat sich der Kult der Jeanne d’Arc anfangs auf den konservativen Teil der Bevölkerung beschränkt. Katholisch, zum Teil auch monarchistisch geprägt, verstand man sie hier als Sinnbild des alten Frankreich, das treu zu Thron und Altar stand. Das übliche Bildprogramm, vor allem die Darstellung mit der Lilie oder der weißen Fahne des Königtums, entsprach genau dem, was die Traditionalisten wünschten.

Dabei blieb es bis zur Niederlage von 1871. Erst diese Traumatisierung leitete einen langsamen, immer wieder unterbrochenen und letztlich unvollendeten Prozeß der Verschmelzung von konservativ-nationaler und republikanisch-nationaler Deutung der Jeanne d‘Arc ein, zu deren wichtigsten Sprechern der einflußreiche Schriftsteller Maurice Barrès und der zitierte Bloy gehörten. Bloys Schrift „Jeanne d’Arc und Deutschland“ erschien allerdings erst 1915, während des Ersten Weltkriegs. Damals erreichte die Verehrung Jeanne d’Arcs ihren absoluten Höhepunkt. Nie zuvor hatte man ihre Gestalt so beschworen, galt sie als Inbegriff der Treue guter Patrioten in den abgetrennten Ostgebieten Elsaß und Lothringen, gab es eine so massive propagandistische Verwendung ihres Bildes, angefangen von Knopflochabzeichen und Medaillons, die sie zeigten, über Plakate und Postkarten, auf denen sie etwa an der Spitze der französischen Truppen im Kampf gegen den Feind dargestellt wurde.

Aber sowenig die union sacrée – die französische Variante der Burgfriedenspolitik – über das Kriegsende hinaus hielt, sowenig blieb es bei einem dauerhaften Ausgleich. Zwar feierte die Rechte die Heiligsprechung als Triumph, aber der 1922 eingeführte Gedenktag war nur ein Schatten dessen, was die Nationalisten, insbesondere die Anhänger von Maurras, sich vorstellten. Seit dem 16. Mai 1909 hatten sie illegale Aufmärsche zu Ehren der Jeanne d’Arc durchgeführt, deren Hauptziel die Provokation von politischen Gegnern und „gottloser“ Staatsmacht war und die regelmäßig zu schweren Ausschreitungen und Verhaftungen führten. Auf der anderen Seite tat sich das offizielle Frankreich schwer mit einer vorbehaltlosen Anerkennung, der schon die laizistische Gesetzgebung entgegenstand. Würdigungen seiner Repräsentanten klangen oft eher gewunden.

Nachwirkungen dieses Konflikts der zwanziger und dreißiger Jahre reichten bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Zwar blieb das nach der Besetzung Frankreichs errichtete Vichy-Regime vorsichtig bei der Umgestaltung der Staatssymbolik, entfernte aber konsequent die Pétain verhaßte Marianne, die entweder durch eine Allegorie der France oder eben die Figur der Jeanne d’Arc ersetzt wurde. Die antienglische Ausrichtung ihres Kampfes kam diesem Rückgriff besonders entgegen. Ein Hemmnis der Wirkung bildete allerdings, daß die Gegenseite dasselbe Symbol in Anspruch nahm. Erwähnenswert ist in dem Zusammenhang, daß de Gaulles Entschluß, das Lothringerkreuz als Emblem des „Freien Frankreich“ zu wählen, auf die – irrtümliche – Idee zurückging, es handele sich um das Zeichen, unter dem Jeanne d‘Arc ihren Kampf geführt habe.

Der Konflikt um die Bedeutung der Jeanne d’Arc setzte sich auch in der Vierten und Fünften Republik fort, verlor aber an Vehemenz. Das hat mit dem Bedeutungsrückgang des Christlichen einerseits, des klassischen Inventars der Nationalsymbolik andererseits zu tun. Trotzdem ist die Vorstellung von der Jeanne d’Arc als einer „ökumenischen Figur“ (Danny Trom) Wunschdenken. Sie bleibt schon aufgrund ihrer Geschichte immer mit der Idee eines entschlossenen Kampfs um die nationale Selbstbehauptung verknüpft. Das sehen auch ihre neuen Feinde so. In einem skandalträchtigen, aber unter nord-afrikanischen Einwanderern populären Rap heißt es „Haß über die Kinder von Jeanne d’Arc / hoch und kurz werden wir sie aufhängen.“

Foto: Jeanne d‘Arc bei der Belagerung von Orléans, Gemälde (1886–1890) von Jules Eugène Lenepveu; Altar in der Normandie mit einem Standbild der Jeanne d’Arc, ihrem Schwert und der Inschrift „Jesus Maria“