© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Von der Sehnsucht nach einer Revolution
Traum von Berlin und Babylon: Zum hundertsten Todestag des Dichters Georg Heym
Baal Müller

Der Lyriker und Novellist wäre vielleicht einer der größten Dichter Deutschlands geworden, jedenfalls des zwanzigsten Jahrhunderts“, schrieb der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki 2003 in der FAZ über den am 16. Januar 1912 im Alter von 24 Jahren beim Schlittschuhlaufen in der Havel ertrunkenen Georg Heym. Zweifellos gehörte der wortgewaltige junge Autor zu den Repräsentanten der expressionistischen Dichtung in Deutschland, ja der literarischen Moderne überhaupt, und doch stellt sich die Frage, ob für ihn oder andere Frühvollendete seiner Generation eine literarische Karriere überhaupt vorstellbar gewesen wäre.

Man mag seinen Tod für einen Unglücksfall halten, aber er teilte nicht nur sein frühes Ende, sondern auch seine überhitzte Geistigkeit mit Unzähligen der an Somme oder Marne verbluteten Generation von 1914, der er angehörte, ohne die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs betreten zu haben. In den düsteren und ekstatischen Visionen des Expressionismus fieberte sich die wilhelminische Epoche zu Ende, und das Jahrhundert der Materialschlachten und Vernichtungslager, Parteiherrschaften und Massenbewegungen dämmerte herauf.

Wie Georg Trakl, sein österreichischer Bruder im Geiste, oder Novalis, das Dichtergenie der Romantik, ist Georg Heym als ewiger Jüngling in die Literaturgeschichte eingegangen. Vielleicht wäre er, wie Arthur Rimbaud, bald verstummt, wahrscheinlicher hätte ihn ein anderer früher Tod – am sichersten derjenige in Trommelfeuer und Schützengraben – ereilt, aber als älterer Herr und arrivierter Schriftsteller ist er kaum denkbar. Andererseits ist ein Tod in jüngeren Jahren – oder ein Verdämmern im Irrsinn – oft eine Voraussetzung dafür, zum „Mythos“ zu werden; man denke an Mozart, Hölderlin, Kleist und Nietzsche, an Filmstars wie James Dean und Marilyn Monroe, gescheiterte Revolutionäre wie Che Guevara und sein rechtes Pendant Corneliu Codreanu und an Repräsentanten der modernen Popkultur wie Jim Morrison, Kurt Cobain oder zuletzt Amy Winehouse (JF 31-32/11).

Der Vergleich mit den Revolutionären wie mit den Idolen der Jugend liegt insofern nahe, als es sich auch beim Expressionismus um eine – im geistigen Sinne – revolutionäre und von der Jugend getragene Bewegung gehandelt hat. Auch der Expressionismus wollte, darin ganz deutsch, vom Geistigen in die Politik hineinwirken, eine neue Gesellschaft oder einen neuen Menschen schaffen; aus den Tagebüchern Georg Heyms spricht die drängende Sehnsucht, daß endlich etwas Neues, ganz gleich ob Krieg oder Revolution, passieren müsse. Anders als bei vergleichbaren genialen Dichterjünglingen steht bei ihm das Pubertäre und Triviale schroff und unverbunden neben dem Einzigartigen.

An äußeren biographischen Daten gibt es wenig über den berufs- und perspektivlosen verbummelten Studenten mitzuteilen: Am 30. Oktober 1887 in Hirschberg in Schlesien als Sohn eines Staats- und späteren Reichsmilitärstaatsanwalts geboren, wuchs er in Gnesen und Posen, Berlin und Neuruppin auf; vielleicht prägte sich durch die häufigen Umzüge seinem Wesen eine Unbehaustheit ein, die ihn die moderne Großstadt um so bedrohlicher empfinden ließ, als er keinen heimatlichen Ausgleich auf dem Lande oder in der Natur finden konnte.

Auf Wunsch des strengen und stark religiösen Vaters nahm er ein ungeliebtes Jurastudium auf – er mußte sich „vollstopfen wie eine alte Sau auf der Mast mit der Juristerei“ – und begann nach dem ersten Staatsexamen 1911 eine Tätigkeit als Assessor. Nachdem er jedoch vorzeitig entlassen und auch seine Dissertation von der Universität Würzburg zurückgewiesen wurde, bemühte er sich, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Sein Eintritt in das Elsässische Infanterie-Regiment in Metz wurde durch seinen tödlichen Unfall zusammen mit seinem Dichterfreund Ernst Balcke, den er aus den Fluten zu retten versuchte, verhindert; der kindliche Tod beim Eislaufen besiegelte das Leben eines jungen Mannes, der sich, nicht nur an den Maßstäben seiner Zeit gemessen, geweigert hat, erwachsen zu werden und stattdessen in die Traumwelten seiner Dichtung floh.

So belanglos dieses kurze Leben war, so reich war seine dichterische Ernte. Neben einer Reihe von Dramen und dem juvenilen Versuch einer neuen Religion (1909) umfaßt sie seine 1913 postum unter dem Titel „Der Dieb“ zusammengefaßten Novellen sowie sein einzigartiges lyrisches Werk, darunter vor allem „Der ewige Tag“ (1911), „Umbra Vitae“ (1912) und „Marathon“ (1914).

In seinen letzten beiden Jahren drängt sich alles zusammen: Einerseits scheitert seine niemals ernsthaft betriebene berufliche Laufbahn, andererseits gelingt es ihm, wesentlich durch den von Kurt Hiller und Jakob van Hoddis gegründeten Neuen Club inspiriert, als einer der wortmächtigsten Dichter seiner Zeit hervorzutreten: Georg Heym wurde zum ersten Dichter der modernen Großstadt, die er, wie in seinem bekanntesten Gedicht „Der Gott der Stadt“, als apokalyptische, von Dämonen beherrschte und von entmenschten Massen behauste Mischung aus Berlin und Babylon besang. Daneben verfaßte er auch Verse von inniger Schlichtheit wie seine „Träumerei in Hellblau“: Alle Landschaften haben / Sich mit Blau gefüllt. / Alle Büsche und Bäume des Stromes, / Der weit in den Norden schwillt.

Vielleicht hat er auch seinen Tod in einem Traum vorausgesehen. 1912 notierte er, wie er „in ein grünes schlammiges, schlingpflanzenreiches Wasser“ versank: „Doch ich gab mich nicht verloren, ich begann zu schwimmen. Wie durch ein Wunder rückte das ferne Land mir näher und näher. Mit wenigen Stößen landete ich in einer sandigen, sonnigen Bucht.“

Gelang es ihm, sich zu retten? Vielleicht. Aber das ferne Land seiner Träume, dem er sich wundersam näherte, war das Totenreich.

 

Georg Heym

Der Gott der Stadt (1911)

Auf einem Häuserblocke sitzt er breit.

Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.

Er schaut voll Wut, wo fern in Einsamkeit

Die letzten Häuser in das Land verirrn.

 

Vom Abend glänzt der rote Bauch dem Baal,

Die großen Städte knien um ihn her.

Der Kirchenglocken ungeheure Zahl

Wogt auf zu ihm aus schwarzer Türme Meer.

 

Wie Korybanten-Tanz dröhnt die Musik

Der Millionen durch die Straßen laut.

Der Schlote Rauch, die Wolken der Fabrik

Ziehn auf zu ihm, wie Duft von Weihrauch blaut.

 

Das Wetter schwelt in seinen Augenbrauen.

Der dunkle Abend wird in Nacht betäubt.

Die Stürme flattern, die wie Geier schauen

Von seinem Haupthaar, das im Zorne sträubt.

 

Er streckt ins Dunkel seine Fleischerfaust.

Er schüttelt sie. Ein Meer von Feuer jagt

Durch eine Straße. Und der Glutqualm braust

Und frißt sie auf, bis spät der Morgen tagt.