© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  03/12 13. Januar 2012

Pankraz,
der Politiker Havel und die Antipolitik

Vor knapp einem Monat, am 18. Dezember 2011, starb Vaclav Havel, Tschechiens großer Schriftsteller und weniger große Ex-Präsident. Die Zeit der Nachrufe-Tremolos („nil nisi bene“) ist abgelaufen, man kann zur Sache kommen. Sache aber ist, daß Havel, den die zur Beerdigung aus aller Welt angereisten Spitzenpolitiker mit größtem Aufwand als einen der Ihren bertrauerten (um sich unter seiner Sonne zu wärmen und aufzuspreizen), so gut wie nichts mit diesen seinen „Kollegen“ zu tun hatte.

Havel war und blieb bis zuletzt das, was er immer gewesen war: ein Schriftsteller und politischer Dissident, der quer im Hals der Politiker steckte, ob in Ost oder West. 1984 erschien in der Pariser Dissidenten-Zeitschrift Kontinent jener große, die Leser tief bewegende Essay „Politik und Gewissen“, wo der in seiner Heimat geächtete und immer wieder festgenommene Autor es unternahm, einen gänzlich neuen Begriff von Politik zu begründen und von dem er später nie ein Wort zurücknahm.

Alle bisherige Politik, schrieb Havel, sei immer nur „Technologie der Macht“ gewesen, ein Prozeß der Anonymisierung und Entpersönlichung der Macht, ihre Reduktion auf bloße Lenkung und Manipulation der Seelen, ein Herauslösen des Politischen aus der „Lebenswelt“, also aus dem, was die Menschen wirklich angeht und bewegt. Der End- und Höhepunkt dieses Entfremdungsprozesses sei der Totalitarismus des Sowjetsystems, dessen Ende sich jetzt glücklicherweise abzeichne, aber die totalitäre Gefahr lauere auch im Westen.

Aufgabe einer „neuen“ Politik müsse es sein, „umsichtig und aufmerksam, doch zugleich unter vollem Einsatz der eigenen Person, überall der irrationalen Eigenbewegung der anonymen, entpersönlichten und unmenschlichen Macht der Ideologien, Systeme, Apparate, Bürokratien, künstlichen Sprachen und politischen Schlagworte entgegenzutreten, sich gegen deren komplexen und abseitig entfremdenden Druck zu wehren“. Der „neue“ Politiker müsse „ohne Rücksicht auf Verlachtwerden seine Maßstäbe voll aus seiner Lebenswelt nehmen und auf deren Richtungs-weisung – auch gegen Widerstände – bestehen“.

Es fällt Pankraz heute noch schwer, gegenüber Havel die kritische Sonde anzusetzen, spürt man doch aus jeder Zeile seines Essays, daß sie gewissermaßen mit Herzblut geschrieben wurde, als Summe und Konsequenz eines tapferen Dissidentenlebens, das so viele Jahre schier hoffnungslos zwischen Schreibtisch und Gefängnis hin und her pendelte und allen Verlockungen des Regimes souverän widerstanden hat. Er hat sich nicht unterkriegen lassen. Bei der Niederschrift seines Essays lechzte Havel offenbar geradezu nach einer Politik der praktizierten Sittlichkeit und der lebensweltlichen Sinngebung.

Jene kommunistischen Politiker in Prag, denen sich der Dichter und Dissident konfrontiert sah, verfuhren bei der Durchsetzung ihres jeweiligen Kurses ja völlig skrupellos und ohne die geringste Rücksicht auf sittliche Grundsätze, die es ihrer Meinung nach gar nicht gab. Andererseits bestand ihr „Kurs“ schon seit langem nur noch aus einem geistentleerten Vorsichhinwursteln, erschöpfte sich in der bloßen Machterhaltung im bloßen Obenbleibenwollen. Sie waren am Ende.

Trotzdem muß man sagen, daß Havels These, wahre Politik sei Sinnsuche und Sinngebung, ziemlich riskant und teilweise selber dem Totalitären verhaftet ist. Demokratische Politiker sind von Haus aus keine Sinngeber, auch wenn sie sich gelegentlich als solche aufspielen. Lebensweltliche Sinnsuche in einem wahrhaft freien Gemeinwesen bleibt mit gutem Grund dem einzelnen und den Vereinen überlassen; dem Politiker fällt die Aufgabe zu, die verschiedenen Sinngebäude zur friedlichen Polis zu vereinen, sich zwischen ihnen als ehrlicher Makler zu betätigen, entstehende Konflikte zu kanalisieren und zu zivilisieren.

Der Preis, den er dafür fordert (und fordern darf), ist natürlich Macht, doch es ist bekanntlich eine eingegrenzte, an Sittengesetze gebundene und vielfach kontrollierte Macht. Havel hat zweifellos recht, wenn er den Totalitarismus als ein Kind westlicher Denkweise definiert, als Ausfluß der westlichen Hybris, alles verwissenschaftlichen und egalisieren zu wollen. Dennoch klaffen zwischen totalitärer und freiheitlicher Politik Abgründe, und das wichtigste Merkmal freiheitlicher Politik besteht eben darin, daß sie sich ausdrücklich nicht in alle Sphären der Lebenswelt postulierend einmischt.

Die Trennung von Lebenswelt und Politik ist kein Verhängnis, sondern ein Vorzug und eine Errungenschaft.Natürlich hat Havel recht, wenn er die neuere Politologie anklagt, ein Wahngebäude des Alles-systematisieren-Könnens zu errichten und die Politik dadurch noch mehr von der Lebenswelt wegzuführen. Politik ist keine Wissenschaft, sie ist eine Kunst. Dem steht aber nicht entgegen, daß man durchaus à la Machiavelli Regelkataloge und Trick-Kompendien für erfolgreiches politisches Operieren anfertigen kann.

Es ist dem demokratischen Politiker auch erlaubt, von den offenbarten Tricks Gebrauch zu machen. Ein gewisser Freiraum der Maskierung, des Spiels, der Intrige muß bleiben; eine „vollkommene“ Politik wäre unmenschlich, denn das Leben ist ja auch in anderen Sphären nicht vollkommen. Freilich kann auch demokratische Politik zu arroganter Routine, bürokratischem Administrieren und schlimmer Sprachverhunzung entarten; das hängt nicht zuletzt vom Karat der jeweligen politischen Klasse ab.

Vaclav Havel empfahl den westlichen Politikern seinerzeit ausdrücklich einen „lernenden Blick“ auf die Dissidenten im Osten, weil diese dank des vielen Leids, das sie erdulden mußten, vor „Entfremdung“ vom Leben weitgehend gefeit seien. Als er dann selber Präsident wurde, mußte er wohl oder übel viele, wohl allzu viele Kompromisse schließen, was mitunter sehr komisch wirkte, so daß man beinahe den Eindruck hatte, auf dem Hradschin sitze der leibhaftige Melde-gehorsamst-Schwejk. Aber so gut wie manche andere Präsidenten war Havel allemal.