© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/12 06. Januar 2012

Der Flaneur
Der Blockwart
Toni Roidl

Im Internet einen alten Schulfreund aufgestöbert und ein Wiedersehen verabredet. Seine Adresse ist ein „linksalternatives Wohnprojekt“. Eine Reihe alter Arbeiterhäuser aus dem Kaiserreich wurde Anfang der 1980er von jungen Leuten vor dem Abriß bewahrt und saniert.

Heute wohnen dort nur noch zwei, drei Senioren von der alten Garde, die den Jungspunden an langen Abenden gerne von den wilden Zeiten erzählen. Die neue Generation ist das typische Bionade-Bürgertum: Architekten und Internetexperten, die ihrem linken Lifestyle einen Farbspritzer Revoluzzer-Pop verleihen wollen – aber bitte mit allem Komfort.

Ich suche die richtige Hausnummer. Das fällt einigen Anwohnern auf. Sie beobachten mich skeptisch. Einer kommt heraus und fragt mich unwirsch, was ich hier zu suchen hätte und wer ich eigentlich sei. Ich erkläre mein Anliegen. Das sei ja gut und schön, weist mich der Peter-Lustig-Typ zurecht – aber hier könne nicht jeder einfach reinspazieren, wie’s ihm paßt.

Endlich in der Wohnung des Schulfreundes beim Kaffee. Ich erzähle ihm das Erlebnis mit dem Zerberus. Na ja, meint er, man müsse das verstehen – schließlich könnten Fremde ja auch „Nazis“ oder „Bullen“ sein, da sei es gut, wenn die Nachbarn ein Auge offenhalten.

Was haben wir früher gemeinsam über die „Spießer“ in den Gartenzwergsiedlungen gelästert, durch deren Straßen man nicht gehen konnte, ohne von mißtrauischen Augenpaaren hinter Gardinen verfolgt zu werden. Die sich Kennzeichen notierten und über den Gartenzaun kläfften: Was machen Sie da? Wo wollen Sie hin? Aber das waren natürlich auch rechte Blockwarte – keine jungen urbanen, lockeren Linken.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen