© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  02/12 06. Januar 2012

Pankraz,
Anatole France und die Schwangerschaft

Mit der Demokratie sei es wie mit der Schwangerschaft, meinte vor Jahr und Tag ein pointenversessener, spät zur Demokratie bekehrter Fernseh-Talkmaster, „ein bißchen davon gibt es nicht“. Eine Programmzeitschrift fand den Spruch damals so treffend, daß sie ihn unter ihre „Geflügelten Worte des Jahres“ einreihte.

Der Vorgang zeigt, wie wenig staatsbürgerlicher Unterricht anschlagen kann (oder wie schlecht er ist). Denn in Wirklichkeit gibt es nichts, was vermischter, in sich verschiedener und graduell abgestufter wäre als die Demokratie. Nur in den Köpfen von eifernden Patentdemokraten existiert sie, die „reine Demokratie“, die Demokratie qua Schwangerschaft. In Wirklichkeit gleicht kein einziges sich demokratisch nennendes  Staatswesen in der Welt dem anderen.

Das beginnt schon mit den formalen Regelungen zur Ermittlung des sogenannten Volkswillens. Eine Demokratie wie die der Vereinigten Staaten etwa würde, auf mitteleuropäische Verhältnisse übertragen, höchst undemokratisch, nämlich aristokratisch und überpräsidial, aussehen. Daß der Staatschef nicht von den parlamentarischen Kammern bestimmt wird, daß er eine gewaltige Machtfülle in seinen Händen vereint und keineswegs für alles und jedes ein Mehrheitsvotum benötigt, widerspricht eindeutig dem, was man sich hierzulande traditionellerweise unter Demokratie vorstellt.

Dabei ist das Wahlrecht zwar der zentrale, doch längst nicht der wichtigste Aspekt demokratischer Verfaßtheit. Längst hat man sich angewöhnt, nur dann von einer „echten Demokratie“ zu sprechen, wenn darüber hinaus der ganze Kanon der sogenannten Menschen- und Bürgerrechte gewährt wird, Religions- und Gewissensfreiheit, Meinungs-, Presse-, Informations- und Lehrfreiheit, Versammlungsfreiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Garantie des Eigentums und des Erbrechts, Gleichheit vor dem Gesetz, Verbot der Doppelbestrafung, Garantie gegen ungerechtfertigte Verhaftung usw.

Was aber, wenn ein Staat das Wahlrecht verweigert oder suspendiert, das Parlament in die Ferien schickt, den ganzen übrigen Katalog der Menschenrechte jedoch weitgehend unangetastet läßt und sogar ausdrücklich garantiert? Nur blinde Eiferer würden dann leugnen, daß hier zumindest „ein bißchen“ Demokratie praktiziert wird.

Andererseits kommt es durchaus vor, daß Staaten mit dem ganzen Instrumentarium freier Wahlen und eines ordentlichen Parlamentarismus prunken, kraft Mehrheitswillen indessen immer mehr Menschenrechte einschränken oder gar abschaffen. Parlamentarische Mehrheiten vergreifen sich, wie auch hierzulande inzwischen jeder weiß, immer wieder gern am Recht auf Eigentum oder am Recht der Pressefreiheit. Man muß dann wohl konstatieren, daß in dem betreffenden Staat „ein bißchen“ Demokratie verlorengegangen ist

Ganz klar wird, daß es – wie es (laut Horkheimer und Adorno) eine Dialektik der Aufklärung gibt, die in ihr Gegenteil, nämlich in nackte Barbarei, umschlagen kann – auch eine Dialektik der Demokratie gibt. Auch die Demokratie kann, auf die Spitze getrieben, in ihr Gegenteil umschlagen, in Diktatur und Despotie. Die „reine Demokratie“, der totale Vollzug des Volks- oder Mehrheitswillens, stellt unter Umständen sämtliche Menschen- und Bürgerrechte zur Disposition, degradiert sie zur bloßen Funktion medial-politischer Entscheidungen.

Oftmals geschieht dies im substaatlichen Bereich der Gesellschaft, in Schulen, Vereinen und Parteien, während der Staat selbst  „bloß zusieht“. Zusammenballungen von Gutmenschen oder  selbsternannte Exekutoren der angeblichen volonté générale machen sich auf, um überall „Demokratie herzustellen“. In alten 68er-Zeiten und auch noch danach wurden immer wieder komplizierte elitäre, nach Leistung hierarchisierte Gebilde wie Universitätsseminare, Kunstvereine oder Theater lärmenden Verfahrensdebatten und gleichmacherischen Abstimmungen unterworfen und dadurch regelrecht am Boden zerstört.

Aber auch der Staat selbst betätigt sich – und zwar immer öfter – an der Aushöhlung seiner eigenen verfassungsmäßigen  Grundlagen, wie nicht zuletzt die Finanzkrise zeigt. In ihrem Schatten hat sich die Exekutive längst zum einzigen Kompetenzverwalter ernannt und das gewählte Parlament bei der Entscheidung über wichtige politische Fragen komplett ausgeschaltet. Die Parlamentarier haben nichts mehr zu sagen, vom Wählervolk zu schweigen. Alles wird nur noch durch superbürokratische „Verfahren“ geregelt, und das Ganze heißt dann „alternativlose Demokratie“.

In solche Abgründe also kann es führen, wenn man die Demokratie – um zu dem Gleichnis jenes törichten Talkmasters zurückzukehren – als Inbegriff von Schwangerschaft ausgibt und ihr jegliche Graduierungs- und Modulierungsmöglichkeit abspricht. Real existierende Demokratie ist eben das genaue Gegenteil von Schwangerschaft. Sie funktioniert nur dann, wenn sie „ein bißchen“ praktiziert wird, sie muß eingegrenzt und vor sich selbst geschützt werden. „In einer Demokratie“, meinte der große Demokrat und Spötter Anatole France (1844–1924), „ist das Volk seinem eigenen Willen unterworfen, und das ist eine harte Knechtschaft, denn der angebliche Wille der Gesamtheit ist im einzelnen wenig oder gar nicht vorhanden.“

Um die Knechtschaft zu mildern, empfiehlt es sich, die demokratischen Verfahren mit den jeweiligen Volkstraditionen sorgfältig zu verknüpfen und sie nicht übergreifen zu lassen auf von Haus aus unpolitische, komplizierte und leistungsabhängige Lebensbereiche. Vor allem jedoch kommt es darauf an, den um die Rechtsstaatlichkeit gruppierten Kern der Menschenrechte ganz fest in der praktischen Politik zu verankern und hochzuhalten.

Rechtsstaatlichkeit geht vor momentane Mehrheitsentscheidung: Dies muß das Grundprinzip maßvoller, schwangerschaftsfreier Demokratie bleiben, damit sie keine Monster und Ungeheuer gebären kann.

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