© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/11-01/12 / 23./30. Dezember 2011

Der Flaneur
Einsam unter Menschen
Josef Gottfried

Der Heilige Nikolaus war der Bischof der türkischen Stadt Myra“, erzählt die Lektorin während des Familiengottesdienstes zum dritten Advent. Schlagartig beginnt der Mann schräg vor mir in der Bank heftig mit dem Kopf zu schütteln.

Er blickt kurz fragend zu seiner Frau, die mit ihrem höchstens zweijährigen Kind in einem Pixi-Buch liest und nicht auf ihn reagiert. Dann überblickt er suchend die anderen Bänke vor ihm, nirgendwo findet er ein Zeichen der Empörung. Dann schüttelt er wieder mit dem Kopf, diesmal etwas weniger heftig. Er hört wieder der Lektorin zu, sie liest die Geschichte von einem mit Korn beladenen Schiff im Hafen von Myra in der Art vor, wie eine Märchenerzählerin es auch tun würde.

Der 40jährige schüttelt wieder mit dem Kopf, es ist nur noch leichtes Wackeln, noch ein letzter suchender Blick nach anderen Empörten – doch nichts dergleichen. Als er mit dem Kopfschütteln aufgehört hat, senkt er seinen Kopf leicht, schließt die Augen und hält seine Nasenwurzel mit Daumen und Zeigefinger. So wie ein Mensch, der sich einsam fühlt.

Nach dem Gottesdienst geht’s zum „Kirchenkaffee“, also Stollen essen und plaudern im Gemeindezentrum. Natürlich bin ich dabei, begrüßendes Nicken hier, Händedruck da. Ich bin zwar nur Zugereister, vom Sehen her kennt man sich aber doch ein wenig. Wie es der Zufall so will, sitzt mir besagter Herr an der Kaffeetafel gegenüber. Während wir am Stollen knabbern und dünnen Kaffee trinken, kommen wir ins Gespräch.

Wir reden über andere Gemeindemitglieder und berichten von dem, was wir beruflich so machen. Er erzählt auch ein wenig von sich und seiner Zeit bei der Armee. Nett, interessant, oberflächlich, belanglos. Ist ja auch in Ordnung so, für ein erstes Kennenlernen. „Ich verstehe, was Sie meinen“, würde ich ihm gerne sagen. Aber ich kenne ihn ja noch nicht.

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