© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/11-01/12 / 23./30. Dezember 2011

Helden der Freiheit
Burkhart Veigels spannende Erinnerungen an seine Zeit als einer der erfolgreichsten Fluchthelfer
Matthias Bath

Am 30. Oktober 1961 wird der West-Berliner Medizinstudent Burkhart Veigel von einem Kommilitonen angesprochen, ob er mithelfen wolle, Studenten der FU aus dem Osten, wo diese seit dem 13. August von einer Fortsetzung ihres Studiums abgeschnitten seien, in den Westen zu holen. Veigel antwortet spontan: „Klar, mache ich!“ Noch am Nachmittag desselben Tages reist er mit seinem bundesdeutschen Paß nach Ost-Berlin ein und bringt einem Philosophiestudenten aus Prenzlauer Berg einen belgischen Paß mit einem Bild des Studenten. Am Abend jenes Tages reist der Student mit diesem Paß über den Bahnhof Friedrichstraße nach West-Berlin aus und wird am Lehrter Stadtbahnhof von Veigel wieder in Empfang genommen, dem er den Paß zurückgab.

Mit dieser Aktion war Veigel buchstäblich über Nacht zum Vollzeitfluchthelfer geworden. Bereits am nächsten Tag brachte er ausländische Pässe zu zwei Flüchtlingen nach Ost-Berlin und lotste diese am Abend über den Bahnhof Friedrichstraße in den Westen. Daneben blieb zum Studium keine Zeit. In die Lehrveranstaltungen mit Anwesenheitspflicht schickte Veigel Freunde als Vertreter, die sich meldeten, wenn sein Name aufgerufen wurde.

Die Fluchthilfe mittels ausländischer Pässe funktionierte in Berlin trotz immer diffizilerer Kontrollen der DDR bis zum 6. Januar 1962 und ermöglichte die Flucht von etwa 2.000 Menschen. Sie endete mit der Einführung interner Laufzettel für jeden offiziell einreisenden Paß, am 7. Januar 1962. Wurde von nun an bei der Ausreisekontrolle ein Paß vorgelegt, zu dem kein Laufzettel existierte, konnte es sich nur um den Paß eines Flüchtlings handeln. Nach dem Ende dieser Fluchthilfemöglichkeit trennten sich die Wege Veigels und der studentischen Fluchthelfergruppe um Detlef Girrmann.

Während die Girrmann-Gruppe im Januar und Februar 1962 noch etwa fünfzig Flüchtlinge im Eisenbahntransit durch die DDR über Warnemünde bzw. Saßnitz nach Gedser oder Trelleborg bringen konnte, begann für Veigel die Suche nach eigenen Fluchtwegen. Die Skandinavien-Tour wurde bereits Mitte Februar 1962 seitens der DDR aufgedeckt und unterbunden. Maßgeblich hierfür waren die Informationen eines in die Girrmann-Gruppe eingeschleusten Stasi-Spitzels. Veigel schildert eingehend den immensen Schaden, den verschiedene Spitzel der Fluchthilfe zufügten. Trotz der bis zum gegenseitigen Mißtrauen reichenden Vorsicht der führenden Fluchthelfer konnte seinerzeit nur ein Spitzel, der sich im Frühjahr 1962 durch seine Rückkehr in die DDR selbst enttarnte, als solcher erkannt werden. Die übrigen Spitzel wurden erst nach Offenlegung der Stasi-Akten in den neunziger Jahren bekannt.

Veigel versuchte ab 1962 Fluchthilfemöglichkeiten durch die Grenzsperren am Rande Berlins, beteiligte sich bei Arbeiten von Fluchttunneln, schleuste Flüchtlinge mittels Personaldokumenten von Doppelgängern durch die Grenzkontrollen und ließ schließlich Fahrzeuge umbauen, in deren versteckten Hohlräumen Flüchtlinge in den Westen gebracht wurden. Daneben schloß er 1967 erfolgreich sein Medizinstudium ab. Im Herbst 1970 beendete er seine Fluchthelfertätigkeit und war danach als Arzt in Hannover und Stuttgart tätig.

Entstanden ist so ein ungemein spannendes, packendes und fesselndes Buch. Abgerundet wird Veigels Bericht mit Nachbetrachtungen zur Fluchthilfe auch juristischer Art. Dabei wird die Rechtslage während der aktiven Zeit Veigels in den sechziger Jahren zutreffend wiedergegeben, während die Ausführungen über die Rechtslage auf der Grundlage des Einigungsvertrages von 1990 eher von Unverständnis geprägt sind. Widerspruch ist jedoch da angebracht, wo Veigel meint, die Fluchthelfer seien keine Widerstandskämpfer gewesen. Es mag sein, daß das Selbstbild der Fluchthelfer eher dem der humanitären Hilfe als dem eines Widerstandskämpfers entsprach.

Aber objektiv zielte die Fluchthilfe auf den Kern des Machtanspruchs der „sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung‘‘, nämlich die Herrschaft über die in ihrem Bereich lebenden Menschen. Die DDR sah dies ganz genauso. Wäre man Veigels habhaft geworden, hätte ihm dort die Todesstrafe gedroht. Zweimal versuchte man, ihn in die DDR zu entführen. Bedenkt man zudem noch die politische Gleichschaltung im Innern der DDR, die dort Widerstand jedenfalls in den ersten Jahren nach dem Mauerbau gar nicht zuließ, so stellte Fluchthilfe vor diesem politischen Hintergrund eine der wenigen Formen noch möglichen Widerstandes gegen das DDR-System dar.

 

Dr. Matthias Bath, geboren 1956 in West-Berlin, wurde 1976 gefaßt, als er drei Menschen über die innerdeutsche Grenze in den Westen bringen wollte. Dafür wurde er in der DDR zu fünf Jahren Haft verurteilt. 2007 publizierte er im Berliner Jaron Verlag seine Hafterlebnisse „Gefangen und freigetauscht. 1.197 Tage als Fluchthelfer in der DDR-Haft“.

Burkhart Veigel: Wege durch die Mauer. Fluchthilfe und Stasi zwischen Ost und West. Verlag Berliner Unterwelten, Berlin 2011, broschiert, 488 Seiten, Abbildungen, 19,90 Euro

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