© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/11-01/12 / 23./30. Dezember 2011

Die erste deutsche Geigerin
Klassische Musik: Anne-Sophie Mutter feiert ihr 35jähriges Bühnenjubiläum
Markus Brandstetter

An einem Dezembermorgen im Jahr 1976 ist ein dreizehnjähriges Mädchen in die Berliner Philharmonie eingeladen, um Herbert von Karajan vorzuspielen. Karajan ist der berühmteste Dirigent der Welt, ebenso bewundert wie gefürchtet. Das Mädchen sitzt aufgeregt in einem Probenraum und umklammert seinen Geigenkasten. Das Vorspielen soll um neun Uhr stattfinden, aber Karajan kommt um zwei. Als er erscheint, hat er nicht viel Zeit, aber ein bißchen Bach würde er gerne hören, zum Beispiel die Chaconne in d-Moll, eines der schwierigsten Werke der Geigenliteratur. Schon nach den ersten Takten ist dem Dirigenten klar, daß er das ganze Stück hören will. Am Ende des Tages wird Karajan den damals noch etwas pummeligen Teenager zu den Pfingstfestspielen nach Salzburg eingeladen haben.

Und so begann eine musikalische Weltkarriere, die in Deutschland nicht ihresgleichen hat. Anne-Sophie Mutter, das Mädchen von damals, wurde zur berühmtesten deutschen Geigerin und zur Gallionsfigur der klassischen Musik schlechthin. Karajan, der sonst für Nachwuchstalente weder Zeit noch Geduld aufbrachte, unterrichtete und protegierte sie, half ihr beim Kauf ihrer ersten Stradivari und spielte mit ihr von 1978 bis 1988 die großen klassisch-romantischen Violinkonzerte auf Schallplatte ein.

Diese Aufnahmen überzeugen heute wie damals. Natürlich herrschen Karajans breite Tempi vor, dominiert der üppig-massive Sound der Berliner Philharmoniker, kann von Werktreue keine Rede sein. Aber zum einen haben damals alle großen Dirigenten (Böhm, Bernstein, Solti) Klassik so interpretiert, und zum anderen ist es besser, große Werke musikalisch und klangschön zu spielen, als mit rasanten Tempi, ohne Vibrato und auf nachgebauten „Originalinstrumenten“ den vermuteten Klang früherer Zeiten wiederauferstehen zu lassen.

Der Grund für Mutters Erfolg liegt indes nicht nur in der Förderung durch Karajan, sondern vor allem in ihrer außergewöhnlichen Begabung, die früh erkannt und gefördert wurde. 1963 im badischen Rheinfelden geboren, von der Schulpflicht entbunden, wurde sie in Winterthur von Aida Stucki unterrichtet, einer Schülerin des legendären Carl Flesch (1873–1944). Dieser war der bedeutendste Violinlehrer des 20. Jahrhunderts, der seinen Schülern eine makellose Technik gepaart mit analytisch-exakter Spielweise und großem, spätromantischem Ton beibrachte, also alles das, was auch Mutters Spiel auszeichnet.

Technisch ist sie auch nach 35 Jahren auf dem Konzertpodium über jeden Zweifel erhaben, und das heißt etwas, denn es gibt berühmte ehemalige Wunderkinder, die nach großen Anfängen ein Leben lang abgebaut haben. Mozarts Violinkonzerte spielt sie mit funkelnden Kadenzen heute schlanker, schneller und noch pointierter als 1978. Ihre Aufnahme der Zigeunerweisen von Pablo de Sarasate ist eine der besten überhaupt und denen von Supervirtuosen wie Jascha Heifetz, Michael Rabin oder Itzhak Perlman absolut ebenbürtig.

Ihre große Stärke zeigt sich besonders in den Interpretationen der klassisch-romantischen Violinkonzerte (Beethoven, Mendelssohn, Brahms, Bruch, Tschaikowski, Sibelius), in denen sie die komplizierte Architektonik dieser Gipfelwerke überzeugend darstellt, ohne sich in Detailhuberei zu verlieren.

Allerdings sind diese Interpretationen über Jahrzehnte weitgehend statisch geblieben. Natürlich spielt Frau Mutter die schnellen Sätze jetzt ein, zwei Minuten rascher als unter Karajan, setzt sie als Solistin und Dirigentin bei Mozart stärkere dynamische Akzente, aber sonst ist die Gestaltung weitgehend dieselbe wie vor dreißig Jahren. Darunter leiden besonders Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, die Mutter 1999 zwar mit Kammerorchester, aber mit großem Ton und starkem Vibrato eingespielt hat. Bei Tschaikowski und Sibelius ist dieser satte Ton genau richtig, aber bei Vivaldi, Bach, Mozart und auch Beethoven wirkt er nicht mehr zeitgemäß.

Auch bei der Live-Aufnahme von Beethovens „Kreutzersonate“ langen Geigerin und Pianist, wechselweise zart hauchend und dramatisch auftrumpfend, dermaßen hin, daß man glauben könnte, ein unbekanntes Werk von César Franck zu hören. Das gilt auch für die CD „Tango Song and Dance“. Hier wird ein bunter Mix aus Brahms, Gershwin, Kreisler und Fauré mit großer Attitüde, übertriebener Dynamik und Dauer-Espressivo geboten, wo Charme und Spritzigkeit genügt hätten.

Mutters Repertoire ist, sieht man von zeitgenössischen Werken ab, kleiner als das der meisten anderen Geiger von Weltrang; es dominiert die Wiener Klassik. Sie hat weder die Bachschen Sonaten und Partiten für Violine solo aufgenommen noch die Capricen (oder irgend etwas anderes) von Paganini. Französische, russische und amerikanische Komponisten spielen in ihren Konzerten eine geringe Rolle, Nebenmeister à la Elgar, Pfitzner, Reger, Nielsen, Szymanowski oder Britten gar keine. Lambert Orkis, ihr Klavierpartner seit 23 Jahren, ist ein kompetenter Begleiter, aber kein Pianist, der zu Mutters übermächtiger Figur den nötigen Widerpart bieten könnte.

In mancher Hinsicht scheint Anne-Sophie Mutter heute Wege beschreiten zu wollen, die in ihrer Selbststilisierung und Repertoire-Beschränkung denen von Maria Callas oder Glenn Gould ähneln. Das freilich wäre der großartigen Kunst dieser überragenden Geigerin nicht zuträglich.

Anne-Sophie Mutter, The Best of (Doppel-CD) Deutsche Grammophon, 2011 www.deutschegrammophon.com

Foto: Anne-Sophie Mutter: Von ihrem berühmten Förderer Herbert von Karajan hat sie gelernt, nicht Töne aneinanderzureihen, sondern in großen Spannungsbögen zu denken

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen