© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  52/11-01/12 / 23./30. Dezember 2011

„Im Irrtum vereint“
Vor fünfzig Jahren begann das Zweite Vatikanische Konzil. Es wurde zum Dreh- und Angelpunkt des „politischen“ Kampfes in der Kirche. Zu Unrecht, meint Sozialethiker Wolfgang Spindler, das Konzil wurde kollektiv – von links bis rechts – falsch interpretiert.
Moritz Schwarz

Herr Dr. Spindler, warum ist die Frage nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil nach fünfzig Jahren noch wichtig?

Spindler: Weil sich die Deutungshoheit über das II. Vaticanum zum Vehikel des inneren Kampfes um den Kurs der Kirche entwickelt hat. Die unübersehbaren Verwerfungen in der Kirche sind ohne dieses Konzil nicht zu verstehen.

Die politische Kirchenlandschaft hat sich also an den Ergebnissen des Konzils sortiert?

Spindler: Besser gesagt: an dem, was man für „das Konzil“ hielt. Das Kuriose dabei ist nämlich, daß Progressisten wie Traditionalisten, obwohl sie sich unversöhnlich gegenüberstehen, in einem Punkt zusammenkommen: in der überzogenen Interpretation des Konzils.

Was heißt das?

Spindler: Gemeinhin gilt das Konzil bis heute als progressiv. Zu Unrecht, tatsächlich war es viel konservativer als es den Fortschrittlern in der Kirche lieb sein kann und viele Tradionalisten anzuerkennen bereit sind. Es entbehrt also nicht der Ironie, daß die einander befehdenden Seiten ausgerechnet im Irrtum vereint sind: Beide mißverstehen das Konzil als totalen Anschluß der Kirche an die Moderne. Mit dem Unterschied, daß die Progressisten darüber jubeln und die Traditionalisten „Verrat!“ rufen. Wobei die Traditionalisten – das muß man zugestehen – durchaus gewisse Gründe zur Kritik haben, etwa den „Circiterismus“, das Verbleiben im Ungefähren an manchen Stellen des Konzilstexts. Die Progressiven hingegen berufen sich oft mit Inhalten auf das Konzil, die dessen Dokumente einfach nicht hergeben.

Zum Beispiel?

Spindler: Etwa, wenn sie behaupten, es würden die anderen Religionen als gleichwertige Heilswege anerkannt. Oder das Konzil habe die Einzigkeit der katholischen Kirche preisgegeben. Oder es beteilige die Bischöfe an der gesamtkirchlichen Leitungsgewalt des Papstes. Oder es verlange überall Demokratie und in den Betrieben die Mitbestimmung der Arbeiter.

Um was geht es bei diesen Fragen politisch?

Spindler: Das ist ja das Problem: Glaube und Kirche werden politisiert! Man geht vom heutigen Lebensgefühl aus und verwechselt Glaube mit Meinung. Und wie in weltlichen Dingen der eine dies, der andere das meint, will man nun auch über Glaubensinhalte und Tradition verhandeln und Mehrheitsbeschlüsse fassen. Berechtigung zur Kommunion, Lehrunterschiede zwischen Katholiken und Protestanten, Geschlechtsmoral, Zölibat, Frauenpriestertum – alle sollen über alles schwätzen und entscheiden dürfen. Unter Berufung auf das Konzil arbeiten progressive Kräfte seit mehr als 45 Jahren an der Demontage der Kirche und des Glaubens, den die Kirche doch zu bewahren und an künftige Generationen weiterzugeben hat.

Also geschieht die falsche Interpretation des Konzils mit Vorsatz?

Spindler: Man muß unterscheiden. Auch unter Progressiven gibt es redliche Theologen. Bei denen ist das Problem eher ein Defizit in der Erkenntnistheorie. Aber es gibt auch andere, die gezielt so lange den Sinn verdrehen, bis das Gegenteil des Gemeinten herauskommt.

Zum Beispiel?

Spindler: Zum Beispiel hat das Konzil den Zölibat gelobt und als die dem Priestertum „angemessene“ Lebensform bezeichnet. Es hat ihn mit feierlichen Worten gestärkt. Daraus gemacht wird das Gegenteil. „Angemessen“, meinen die Progressiven, heiße ja: nicht unbedingt notwendig. Da vom Konzil zudem auf die Ostkirchen verwiesen wird, wo es verheiratete Priester gibt, wird flugs der Schluß gezogen: Nehmt euch ein Beispiel daran, wir brauchen keinen Zölibat, weg damit! Und so wird aus der Bekräftigung des Zölibats durch das Konzil unversehens eine Aufhebung.

Sie sagen, manches, was beschlossen wurde, wurde gar nicht vom Konzil beschlossen.

Spindler: So ist es. Für gewisse Fragen hat das Konzil Kommissionen eingesetzt, etwa den „Rat zur Durchführung der Liturgiekonstitution“. Dieser Rat, der 1969 zur Gottesdienstkongregation ausgebaut wurde, schoß später weit über das Ziel – also den Rahmen, den das Konzil vorgegeben hatte – hinaus. Er machte aus dem Zugeständnis von mehr Muttersprache im Gottesdienst, vor allem bei den Lesungen, eine faktische Abschaffung des Latein. Die Progressiven sehen das so: Da der Rat vom Konzil eingesetzt worden ist, sind seine Beschlüsse denen des Konzils „gleich“. So kommt es, daß viele von der „Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils“ sprechen, obwohl sie damit Änderungen meinen, die dieses nie beschlossen hat.

Was hat es mit dem vielzitierten „Geist des Konzils“ auf sich?

Spindler: Progressive Theologen wissen mitunter selbst, daß ihre Forderungen nicht durch das Konzil abgedeckt sind. Um sich dennoch auf es berufen zu können, sagen sie, es käme nicht so sehr auf den Buchstaben, sondern auf den „Geist des Konzils“ an. Oder die gegnerische Position widerspreche dem „Geist des Konzils“ – ein Taschenspielertrick, zum Beispiel von Hans Küng. Auf diese Weise will man aus dem historisch abgeschlossenen Konzil ein immerwährendes Fortschrittsprojekt machen. Man merkt, daß einige den Geist des Konzils mit ihrem eigenen Vogel verwechseln.

So abwegig kann die progressive Interpretation aber nicht sein, würden sich die Traditionalisten sonst ebenfalls – nur unter anderen Vorzeichen – darauf einlassen?

Spindler: Allen springen sofort die neuartigen Begriffe ins Auge. Etwa wenn es an einer Stelle nicht heißt, die Kirche Christi „ist“ die katholische Kirche, sondern sie „subsistiert“ (verwirklicht sich) in ihr. Da jauchzen die Fortschrittler: Seht, die Kirche hat ihren Alleinvertretungsanspruch aufgegeben! Und die Skeptiker fallen darauf herein, übernehmen das – und sind entsetzt. Richtig aber wäre es, zu erkennen, daß der neue Ausdruck keineswegs der liberalere, sondern der theologisch kräftigere ist. Man muß schon tiefer schürfen, um den Konservativismus dieses Konzils zu erkennen.

Das II. Vaticanum gilt gemeinhin als Inbegriff der Modernisierung der Kirche, wie kommen Sie zu dem Ergebnis, daß es im Grunde konservativ gewesen sei?

Spindler: Dabei war von Modernisierung nie die Rede. Nein, es ging dem Konzil um ein „Aggiornamento“, ein „Heutigwerden“ der unveränderlichen Botschaft Jesu. Die große Mehrheit der Konzilsteilnehmer gehörte weder den Progressiven noch den Traditionalisten an, sondern verstand unter diesem „Heutigwerden“ nur, das Alte neu, sprich zeitgemäß zu formulieren – ohne Substanzverlust. Zweifellos hat das II. Vaticanum Fortschritte erzielt, etwa indem es aus dem reichen Fundus der Heiligen Schrift und der Kirchenväter schöpfte. Die Kirche als „Tempel des Heiligen Geistes“, als „Volk Gottes“: das hat schon mehr Fleisch am Gerippe als der staatsrechtliche Ausdruck Societas perfecta („vollkommene Gesellschaft“). Die Kirchenverfassung blieb – trotz gewisser Zugeständnisse in den Formulierungen – unangetastet. Weder wurde vom Konzil der „Volksaltar“ – also daß der Priester mit dem Gesicht zum Volk statt gen Osten zelebriert – angeordnet, noch schaffte es das Latein ab. Es hat nicht die „Alte Messe“ verboten, es hat nicht den gregorianischen Choral verbannt, es hat nicht den Priestern empfohlen, weltliche Straßenkleidung zu tragen. Erst recht kann man ihm nicht in die Schuhe schieben, daß man sich heute überall Kuscheltheologie-Predigten anhören muß.

Wenn das Konzil konservativ war, was bleibt dann von den traditionellen Vorwürfen der Progressiven, Papst Johannes Paul II. und Kardinal Ratzinger hätten stets den „Rollback“ des Konzils betrieben?

Spindler: Gar nichts, sie sind der blanke Unsinn. Johannes Paul II. ging etwa im interreligiösen Dialog extrem weit.

Und Joseph Ratzinger? Über ihn sagen selbst Konservative, er sei als Reformer gestartet und habe sich erst später zum Konservativen – und unterschwelligen Konzils-Relativierer – gewandelt.

Spindler: Das Gegenteil ist richtig. Ratzinger galt seit jeher als moderner Theologe, dem die alte Schultheologie ein Greuel war. Er ist seinen Grundüberzeugungen immer treu geblieben und nur insofern konservativ. Freilich – das ist wichtig –, konservativ ist keinesfalls mit traditionalistisch gleichzusetzen.

Erklären Sie das! Denn wenn das Konzil tatsächlich konservativ war, hätten die Traditionalisten doch zufrieden sein müssen.

Spindler: Nicht unbedingt, nein. Denn die Traditionalisten sind sehr auf die Liturgie konzentriert – und da hat es durch die neue Messe einen deutlichen Bruch gegeben. An dem ist aber, wie gesagt, nicht das II. Vaticanum selbst schuld. Im übrigen war Erzbischof Lefebvre, der Gründer der tradionalistischen Priesterbruderschaft St. Pius X., von einigen Konzilsdokumenten begeistert, etwa von dem zur Priesterausbildung. Die Kritik der „Piusbrüder“ wird verständlich, wenn man sieht, was aus dem Konzil gemacht wurde. Im Rückblick wird man auch sagen müssen, daß die Konzilsväter blauäugig waren in bezug auf die angebotene Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Kräften. Denn die Kirche wurde schon in den sechziger Jahren weit mehr abgelehnt, als sie ahnte. Offenbar vermag die Bruderschaft die konservativen Linien in den Dokumenten nicht zu entdecken und zu nutzen. So läßt sie sich in diese Antiposition drängen. Andererseits gäbe es wohl ohne ihren Widerstand die althergebrachte Liturgie nicht mehr. Und es ist schäbig, wie man diese Mitchristen behandelt und ausgrenzt, während man mit fremden Religionsvertretern und Atheisten „Dialog auf Augenhöhe“ betreibt und das eigene Erbe verscherbelt.

Wie aber konnte sich die falsche Wahrnehmung des Konzils so stark verbreiten?

Spindler: Die Kultur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist eine Oberflächenkultur. Die Massenmedien wirken so auf die Menschen ein, daß nur noch wenige sich in geistige und geistliche Dinge vertiefen. Das Diktat der einfachen Botschaften führt auch in der Theologie zu Schnellschüssen.

Inwiefern?

Spindler: Ich selbst war zwischen den genannten Polen der Konzilsinterpretation hin und her gerissen. Über meine Beschäftigung mit dem Kirchenrechtler Hans Barion entdeckte ich, daß man auch in differenzierter Form Konzilsbeschlüsse kritisieren kann. Dann dachte ich, der Mann hat recht, das Konzil ist – wie er sich ausdrückte – wissenschaftlich erledigt. Nach langem Überdenken kam ich jedoch darauf, daß er das Konzil unterschätzte und über das Ziel hinausschoß. Barion wirft ihm ein „humanistisches Appeasement“ vor: Es komme dem Progressismus auf Kosten des Glaubens entgegen. Ich habe dieses Schlagwort für den Titel meiner Studie zum Verhältnis von Staat und Kirche gewählt – in der ich auch das Thema II. Vaticanum aufgearbeitet habe –, versehen allerdings mit einem Fragezeichen, denn Barion schüttet wie so viele das Kind mit dem Bade aus. Ich selbst betrachte mich als keinem der extremen Lager zugehörig. Ich stehe für die Tradition des Additiven: Was wahr ist, sollte man hinzufügen, egal, woher es kommt.

Neuerdings tritt neben die klassischen Progressiven eine Gruppe von Theologen, für die das Konzil kein Referenzpunkt mehr ist.

Spindler: Richtig. Weil eben das Konzil am Traditionsverständnis der Kirche festhält, ist es für diese neuere Generation von Progressiven eher hinderlich.

Dann geht die Epoche der Dominanz des Konzils in der kirchenpolitischen Debatte zu Ende – ist das der „Herbst“ des Konzils?

Spindler: Möglich. Die Erlebnisgeneration tritt ab. Ratzinger als Papst vollendet in gewisser Weise die Konzilsepoche. Im übrigen erleben wir den normalen Wechsel der Generationen.

Brauchen wir also ein neues Konzil?

Spindler: Nein, überhaupt nicht. Es gibt das Internet, Bischöfe steigen heute in den Flieger und sind in Null Komma nix in Rom oder anderswo zur Synode. Konzile braucht man vielleicht überhaupt nicht mehr, heute gibt es auch für die Kirche ganz andere Formen der Kommunikation. Was wir brauchen, das sind glaubensmutige Bischöfe. Mir fehlt leider die dicke Lupe, um die in Deutschland zu finden.

 

Dr. Wolfgang Hariolf Spindler der Jurist und katholische Theologe ist stellvertretender Vorsitzender des Instituts für Gesellschaftswissenschaften in Bonn und Vizeredaktionsleiter der seit 1946 erscheinenden Wissenschaftszeitschrift für Sozialethik Die Neue Ordnung. Der ehemalige Assistent am Lehrstuhl für Christliche Sozialwissenschaften in Trier studierte Rechtswissenschaften, Philosophie, Politikwissenschaften und Theologie in Würzburg, München und Wien. Im Sommer legte er seine umfassende Studie „‘Humanistisches Appeasement‘? – Hans Barions Kritik an der Staats- und Soziallehre des Zweiten Vatikanischen Konzils“ (Duncker & Humblot) vor. Der katholische Bonner Theologe Hans Barion (1899–1973), ein enger Freund Carl Schmitts, galt als scharfsinniger Kirchenrechtler konservativer Provenienz. Geboren wurde Wolfgang Spindler 1968 in Ellwangen/Jagst nördlich von Stuttgart.

www.die-neue-ordnung.de

Foto: Eröffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962: „Kurioserweise sind sich Tradionalisten und Fortschrittler in einem einig, in Ihrem Mißverstehen des Konzils als progressiv. Tatsächlich war es weit eher konservativ.“

 

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