© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  51/11 / 16. Dezember 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

In der Reihe der Untersuchungsergebnisse zum Glaubensschwund kommt dem Plausibilität zu, das jüngst in Großbritannien veröffentlicht wurde und behauptet, daß der Abbau der Religiosität mit der Verlängerung der Lebensdauer zusammenhänge. Die Hoffnung auf eine Fortexistenz nach dem Tod verliere an Wünschbarkeit angesichts der Ausdehnung unserer Zeit hienieden. Man muß dabei sicher die Beschränkung auf den westlichen, vormals christlich geprägten Raum betonen, aber ohne Zweifel hatte die Sehnsucht nach Erlösung und die Hoffnung auf ein besseres Leben im Jenseits, wo „abgewischt sein werden alle Tränen“, immer auch zu tun mit der Kürze des Daseins.

Der Einwurf des republikanischen Präsidentschaftskandidaten, Newt Gingrich, die Palästinenser seien ein „erfundenes Volk“, ist apart. Nicht, daß seiner Argumentation die Logik fehlt, aber aus dem Mund eines „Amerikaners“ – wann gab es je eine Nation, erfundener als diese? – wirkt der Vorwurf verwegen.

Bildungsbericht in loser Folge XVI: Nach einer neueren Umfrage rangieren Studienräte in der öffentlichen Wertschätzung gerade noch im unteren Mittelfeld, eine Position vor den Journalisten, bei weiter sinkender Tendenz. Als wäre das nicht schlimm genug, muß man noch die Mitteilung eines Anthropologen verarbeiten, daß der durchschnittliche IQ von Berufsgruppen ziemlich genau der gesellschaftlichen Stellung entspricht, die ihnen die Öffentlichkeit zugesteht.

Bahnhofsbuchhandlungen kennzeichnet – noch stärker als die an Flughäfen – eine Verdichtung des Angebots. Es wird in mehr oder weniger radikaler Beschränkung präsentiert, was der Durchschnitt der Reisenden lesen will. Dabei geht es um leichte Kost, vor allem Unterhaltungsromane, darunter auffallend die große Zahl von Büchern, deren Thema den Neomythen zuzurechnen ist. Fantasy im eigentlichen Sinn hat dagegen an Zuspruch verloren. Der Meister im Zentrum dieses geheimen Reiches ist ohne Zweifel Dan Brown, der die laufenden Motive am erfolgreichsten zusammenrührt, von der Umdeutung der Evangelien über die Behauptung einer Arkantradition mit wechselnder Trägerschaft (Templer, Katharer, Illuminaten etc.) bis zur fatalen Rolle der allmächtigen katholischen Kirche, die alles tut, um die Wahrheit zu unterdrücken. Wenn man den Erfolg verstehen will, muß man begreifen, daß es nicht um Aufklärung geht, sondern um Heterodoxie. Die religiöse Zeitgeschichte ist auch unter dem Aspekt zu betrachten, daß die Gegenkirchen triumphieren und deren Erbauungstraktate heute anders aussehen als früher.

Der Rückzug Großbritanniens aus der EU hat Tradition. Bekannt ist das lange Abseitsstehen gegenüber dem Vorläufer „Europäische Wirtschaftsgemeinschaft“ und der Versuch, sich weiter auf das Commonwealth zu stützen. Wer allerdings zwecks Deutung des Kurses von Cameron auf die imperiale Vergangenheit oder die Idee der „besonderen Beziehungen“ zur angelsächsischen Brudermacht Bezug nimmt, verliert schnell aus dem Blick, daß es auch immer den tiefverwurzelten Mißmut der „little britainer“ gegenüber allem gab, was sich in „Europa“ abspielte, den Affekt der Insulaner angesichts des „Kontinents“, ein nicht so sehr politisch als psychologisch erklärbarer Impuls.

„Die Feinde meiner Feinde sind nicht zwangsläufig meine Freunde, aber sie sind notwendigerweise Verbündete. Ich bin bekanntermaßen kein Castrist, aber ich unterstütze Castro immer in seinem Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus. Ich bin bekanntermaßen kein Christ, aber ich unterstütze Christen immer, sobald sie gegen die Macht des Geldes kämpfen.“ (Alain de Benoist)

Bedenkt man, welcher kulturellen Anstrengung es bedurfte, Kindheit und Jugend als Lebensphasen eigenen Rechts zu begreifen und auszugestalten, steht man verblüfft vor der Tatsache, daß es kein Jahrzehnt gedauert hat, das alles durch Kommerzialisierung zu zerstören. Gemeint ist damit nicht der ewige Impuls der Mädchen, eine „richtige kleine Mama“ abzugeben, oder der der Jungen, schon „ein echter Mann“ zu sein. Gemeint ist vielmehr die widerwärtige Tendenz, in der „Reifungskrise“ die Heranwachsenden möglichst zeitig auf bestimmte, vor allem aus der Unterhaltungsindustrie abgeleitete Konzepte zu trimmen. Das Spektrum reicht von der Frühsexualisierung der weiblichen Kleidung und dem willig gewährten Zugriff auf jede Art von Kosmetika – der Satz künstlicher Fingernägel als Weihnachtsgeschenk für Zwölfjährige ist kein Trash-Phänomen – bis zur Fixierung der Sprache und des Verhaltens auf Medienmuster. Auch dabei ist das Versagen der Bürgerlichen offenkundig: Man wiegelt ab und zieht sich mit dem eigenen Nachwuchs auf sicheres Terrain zurück, schlimmstenfalls, um den Verfall der Normen als Startvorteil zu nutzen.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 6. Januar in der JF-Ausgabe 2/12.

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