© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/11 / 09. Dezember 2011

Der Flaneur
Großstadtgesänge
Toni Roidl

Früher Abend. Die fidele Rentnertruppe aus dem Münsterland steigt schon singend in die U6 ein. Von Lübars kommen sie, mit dem Bus, und haben dort nicht nur Kaffee getrunken. Sie singen und singen. Volkslieder eben. Nicht gerade virtuos, aber aus vollem Herzen.

Am Kurt-Schumacher-Platz bekommen sie unverhofft Verstärkung: Zwei Damen im gleichen Alter rücken näher und fragen neugierig, ob man ein Gesangsverein sei. Nein, ist die Antwort, man sei nur lustig. Nun stellen sich die Damen aber ihrerseits als Gesangsvereinsmitglieder vor. Großes Hallo. Am Wedding stimmt der Reiseleiter der Westfalen „Kein schöner Land“ an. Die Berliner Damen fallen stimmgewaltig ein.

Von den Mitreisenden, die anfangs mürrisch, dann mitleidig schauten, fangen einzelne an, mitzusummen, dann mitzusingen. Erst leise, dann mit wachsender Begeisterung und Phonzahl. Text­unsicherheiten bei der zweiten Strophe sorgen für ein leichtes Diminuendo, während die U6 das Naturkundemuseum hinter sich läßt. Doch an der Oranienburger Straße steigert sich der gemischte Chor nochmal zu einem Furioso: Beim sentimentalen „Nun Brüder eine gute Nacht“ hält es keinen mehr still auf den Sitzen – das ganze Abteil singt aus tiefer Kehle mit!

An der Friedrichstraße müssen die Touristen-Tenöre aussteigen. Sie wollen die S-Bahn zum Alex nehmen. Das ganze Abteil applaudiert, ruft „Bravo!“ Die Gefeierten lachen, danken, grüßen mit großer Geste, steigen aus. Die wartenden Fahrgäste am Bahnsteig sind irritiert. Waren das irgendwelche Promis? Was war denn hier los? Verwunderung über die herzliche Stimmung. Die Bahn fährt weiter. Niemand singt mehr, aber die Atmosphäre ist verwandelt. Die Fahrgäste schauen sich freundlich an, lächeln sich zu, verabschieden sich beim Aussteigen.

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