© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  50/11 / 09. Dezember 2011

Dichterin der deutschen Teilung
Nachruf: Zum Tod der Schriftstellerin Christa Wolf / Trauerfeier findet am 13. Dezember in Berlin statt
Thorsten Hinz

Wer als Lesesüchtiger in der DDR aufwuchs, für den war Christa Wolf von Anfang an gegenwärtig. Mehr noch: An ihr kam keiner vorbei! Die Perspektive auf ihre Bücher und ihre Person wechselte je nach Alter, Erfahrung, ästhetischen Kriterien und politisch-historischen Einsichten. Aus Bewunderung wurde Überdruß, der sich Ende der 1980er Jahre in spöttische Ablehnung verwandelte: Wie konnte man sich mit Seelenpein an einem Staat abarbeiten, der so offensichtlich bankrott war? Doch immer wieder erschienen Werke, die die alte Bewunderung erneuerten.

Eine große Rolle spielte, daß Christa Wolf auch draußen gelesen wurde: in der Bundesrepublik, in Ost- und Westeuropa, sogar in Übersee. Das gab dem Leser, der eingesperrt war in diesem engen, dummen Land, daß sein DDR-geprägtes Leben mehr war als der Reflex auf die staatliche Macht, daß es zugleich einer größeren, freieren Welt angehörte und von ihr verstanden wurde. Daher empfand man die Angriffe, die ab 1990 gegen Christa Wolf gerichtet wurden, als Angriff auf die eigene Biographie. Über alle politischen Differenzen hinweg solidarisierte man sich mit ihr. Das Nachdenken über Christa Wolf war noch einmal ein Prüfstein der Selbstreflexion. Die Ablehnung der späten achtziger Jahre verwandelte sich in Verständnis und neue Wertschätzung.

Christa Wolf, 1929 im heute polnischen Landsberg an der Warthe geboren, war die Schriftstellerin des geteilten Deutschlands. Zyniker könnten sagen, daß ihre Karriere von den Umständen der deutschen Teilung zunächst begünstigt wurde. Hätten Uwe Johnsons Roman „Mutmaßungen über Jakob“ oder Manfred Bielers „Das Kaninchen bin ich“ – ein zu Unrecht vergessenes Buch – in der DDR erscheinen dürfen, dann wäre Wolfs Bestseller „Der geteilte Himmel“ (1963) höchstens als konventionelles Nebenwerk registriert worden. Doch dazu hätte die DDR eine andere beziehungsweise eine Nicht-DDR sein müssen. Als solche aber war sie nicht zu haben. Zwar existierte sie nur aufgrund der russischen Besatzungsmacht, trotzdem war sie ganz real. So wurde Christa Wolfs Werk zum Gradmesser für das, was im zweiten deutschen Staat öffentlich möglich war: politisch, moralisch, ästhetisch.

Ihr Sozialismus-Bild ist nicht euphorisch-naiv, sondern asketisch-streng, protestantisch. Im „Geteilten Himmel“ will die 19jährige Rita sich nach dem Mauerbau umbringen, weil Manfred, ihre große Liebe, als Republikflüchtling in West-Berlin für sie nun unerreichbar ist. Sie wird gerettet. Zu ihrem Gesundungsprozeß gehört die Einsicht: „Wenn er (Manfred) hiergeblieben wäre, und sei es durch Zwang: Heute müßte er versuchen, mit allem fertig zu werden. Heute könnte er ja nicht mehr ausweichen.“

An Sätzen wie diesen sollte sich 1990 der „Literaturstreit“ entzünden. Ahnungslos habe Christa Wolf die „gnadenlose Wirklichkeit einer dreißig Jahre lang eingesperrten Gesellschaft“ protokolliert, ohne ihr auf den Grund zu gehen. Sie sei unfähig gewesen, „die moderne Gesellschaft als kompliziertes System konkurrierender Gruppen zu verstehen“ und habe sie stets als „größere Variante“ einer „autoritär aufgebauten Familie“ aufgefaßt (Frank Schirrmacher). In diesem Zusammenhang fallen Begriffe wie: autoritärer Charakter, Opportunismus, totalitärer Sündenfall usw.

Den Kritikern fehlte fast durchweg das Verständnis für die politisch-historischen Voraussetzungen, die nicht nur Christa Wolfs Werk, sondern auch die eigene Kritik daran determinierten. Nur wenige Intellektuelle waren fähig und willens, Deutschland als Objekt und Schauplatz eines Weltbürgerkrieges zu begreifen, der das Land zerschnitt. Zu ihnen hatte – im Rahmen der ihr eigenen Beschränkung – die Schriftstellerin Anna Seghers gehört, eine mütterliche Freundin und Lehrmeisterin Christa Wolfs, die anläßlich ihres sozialistisch-realistischen Romans „Die Entscheidung“ (1959) mit naivem Freimut bekannt hatte: „Mir war die Hauptsache, zu zeigen, wie in unserer Zeit der Bruch, der die Welt in zwei Lager spaltet, auf alle, selbst die intimsten Teile unseres Lebens einwirkt: Liebe, Ehe, Beruf sind sowenig von der großen Entscheidung ausgenommen wie Politik oder Wirtschaft. Keiner kann sich entziehen, jeder wird vor die Frage gestellt: Für wen, gegen wen bist du.“

Seghers hatte die ausweglose Malaise vor dem Mauerbau formuliert. Christa Wolf ist die Dichterin der Mauer-Ära, als die Teilung fugenlos zementiert war. Wenn sie Seghers’ Feststellung ernst nahm, dann war die Bundesrepublik eben keine echte Alternative zur DDR, sondern lediglich die bequemere Variante deutscher Fremdbestimmung. Bequem aber wollte Christa Wolf es sich nicht machen. Mit protestantischer Strenge versuchte sie, der Unvermeidlichkeit der deutschen Teilung einen Sinn abzugewinnen. Lange glaubte sie, ihn in der sozialistischen Utopie von einer humanen Gesellschaft gefunden zu haben. Nach der Biermann-Ausbürgerung 1976 – gegen die sie mit Furcht im Herzen protestierte – war die Hoffnung erschöpft.

Ihr vielleicht schönstes Buch „Kein Ort. Nirgends“ (1979) schildert eine fiktive Begegnung zwischen Heinrich von Kleist und der Dichterin Karoline von Günderode, die beide im Selbstmord endeten. Sie scheitern an der Unmöglichkeit, ihre Ansprüche mit denen von Staat und Gesellschaft in Übereinstimmung zu bringen. Die Anregung dazu fand sie wieder bei Anna Seghers, die in Briefen und Essays häufig die in Wahnsinn oder durch Freitod gestorbenen Dichter erwähnt hatte: Hölderlin, Lenz und eben auch Kleist und Günderode, die „ihre Stirnen an der gesellschaftlichen Mauer wund rieben“.

Die Wiedervereinigung konnte Christa Wolf gar nicht anders als den Sieg der westlichen über die östliche Nicht-Alternative empfinden. In der 1996 erschienenen Erzählung „Medea“ heißt es am Schluß: „Wohin mit mir. Ist eine Welt zu denken, eine Zeit zu denken, in die ich passen würde. Niemand da, den ich fragen könnte. Das ist die Antwort.“ Es sind Sätze von zeitloser Schönheit und Trauer. Im Werk Christa Wolfs finden sich unzählige davon. Mit ihnen hat sie sich unverlierbar eingeschrieben in die deutsche Literatur und darüber hinaus.

Foto: Christa Wolf im Studiofoyer der Akademie der Künste in Berlin (März 2009): Ihr Sozialismus-Bild war asketisch-streng

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