© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Wer ist hier wahnsinnig?
Über Aussteiger und Außenseiter, die sich von einem städtischen Mittelklassedasein verabschiedet haben
Ellen Kositza

Einer, der aussteigt, verläßt die konventionellen Bahnen. Das erfordert einiges – selbst in Zeiten, wo zumindest die phasenweise Nonkonformität wieder modisch ist. Der Student, der die Ausbildung unterbricht, um sich ein Jahr in Australien durchzuschlagen, der Manager, der seine Auszeit im Kloster nimmt, die Familie, die ihr „Erziehungsjahr“ auf den Philippinen nimmt, die Abiturientin, die beschließt, fortan barfuß zu gehen, dazu all die neuen Veganer, die Konvertiten und Waldkindergarteneltern: All diese kleinen Bemühungen, sich mal aus dem Hauptstrom auszuklinken, sind bereits meist mit Anstrengungen und Beharrungsbereitschaft verbunden. Existentiell sind solche Ausstiege selten. Mit den Leuten, die FAZ-Redakteur Jan Grossarth auf seiner wunderbaren Reportagereise getroffen hat, verhält es sich anders. Ihr Aussteigen ist fundamentaler.

Der Buchtitel suggeriert, daß diese Träumer und Zivilisationsflüchtlinge „angekommen“ sind – die Frage, wo, ob am Ziel ihrer Träume, bei „sich selbst“, im Paradies auf Erden oder in einer eigenartig verdunkelten Nische, kann je unterschiedlich beantwortet werden. Grossarth, der stets einige Tage mit seinen insgesamt 13 Beobachtungsobjekten verbrachte, vermeidet ein definitives Fazit. Seine Sympathien und Irritation verhehlt er nicht.

Er schildert Begegnungen mit spartanisch lebenden Wohngemeinschaften in Vorpommern (deren Hühner auch mit Menschenkot gefüttert werden), mit der vor 35 Jahren gegründeten esoterischen Gruppe „Damanhur“ im Piemont (deren Bewohner sich mit Tier- und Pflanzennamen anreden), einem Waldmenschen und autodidaktischen Philosophen aus dem Westerwald, einem mittelalterlichen Gaukler im Odenwald, dem „Stamm der Likatier“, die seit Jahrzehnten eine matriarchalische Kommune in Füssen bilden und einem jungen Mann, der das Wort „ich“ meidet, sich als „Elf“ bezeichnet und ohne Geld auskommt, auch weil er seine Lebensmittel aus Supermarktabfällen bezieht.

Die Aussteiger, die Grossarth Gastrecht gewährten, sind keine Gestrandeten, die durch Schicksalsschlag oder Lebensuntüchtigkeit aus der Bahn geworfen wurden; sie führen bewußt ein verzichtvolles Leben. Sie sind Idealisten, für deren Ideale im Normalfall wenig gesellschaftliches Verständnis besteht. Manchmal haben sich die Ideen dadurch – durch den Strudel an Mißachtung und Selbstrechtfertigung – radikalisiert.

Grossarth begegnet den Leuten mit zugewandter Neugierde und mit Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“ im Reisegepäck: „Heute lachen die Vernünftigen etwas zu laut über die Wahnsinnigen“, schreibt er und fragt, ob sich im entfremdeten Leben der Großstädter, der mobilen Karrieremenschen und Konsumenten nicht der eigentliche Wahnsinn ausdrücke – sind das nicht Wohlstandssklaven, Abhängige? Man muß keiner Utopie anhängen, um auszusteigen, sagt Grossarth, mancher will „einfach wirklich leben“ und seine „Jahre nicht zubringen wie ein Geschwätz“.

Ein hochmotiviertes, daneben durch öffentliche Mittel reich gefördertes Projekt hat er mit dem sachsen-anhaltischen „Ökodorf Sieben Linden“ besucht. 125 Euro (Matratzenlagerunterbringung und vegetarische Diät) zahlte er für das „Projekt-Interessierten-Wochenende“, nimmt an Sitzkreisen teil inklusive „Mitfühlen“, „Mitsummen“, „Sichöffnen“ und wundert sich über die harten Regeln (nichtbiologische Körperpflegemittel sind nicht mal Besuchern gestattet) und Bedingungen, um hier auf Dauer mitwohnen zu dürfen. „Die Gruppe, von der sehr wahrscheinlich einige schon gegen die Abschiebung von Asylbewerbern protestiert hatten, nahm längst nicht jeden auf.“ Der Reporter muß gehen, als er nicht nur mit eingeschaltetem Handy ertappt wird, sondern während der folgenden, knochenharten Arbeitswoche den Wunsch äußert, sich zwei Stunden lang für seinen Bericht im Dorf umzusehen – untätiges Guckenwollen kostet zusätzlich.

Grossarth schildert detailliert, ehrlich, ohne Häme und Ironie, teils zeigt er sich tief bewegt, mal schüttelt er den Kopf. Das konnte rückwirkend nicht allen Mitwirkenden gefallen, in der Amazon-Bewertungssparte ist das entsprechend nachzulesen. Auffallend ist, daß der Großteil der von ihm besuchten Zivilisationsflüchtlinge entweder kinderlos ist oder jedenfalls ohne den Nachwuchs lebt; der schillernd vor Augen geführte „Stamm der Likatier“ im Allgäu bildet mit seinem Kinderreichtum eine der Ausnahmen. „Man kann Menschen lieben, aber nicht die Menschheit“, sagt einer der dort lebenden „Schwurmenschen“. Nur in überschaubaren Gesellschaften sei menschliches Handeln möglich. Für ihre Kinder wünschen sich die Likatier (Motto: Individualität statt Individualismus) einfache, handfeste Berufe, ein Leben im Getriebe der modernen Wirtschaft wird nicht angestrebt. Man verfügt über zahlreiche eigene Unternehmen; Heilpraxen, Läden, Anwaltskanzleien. Einige Medienkampagnen hat die Großkommune hinter sich, die Bewohner wurden als promiskuitiv und gewalttätig gegeißelt. Die Wochentage haben dort eigene Namen, „Rauschtag“, „Liebestag“, „Erostag“. Grossarth geißelt nicht, er beobachtet und schreibt auf, auch so entsteht ein Bild.

Gelegentlich scheint durch, daß dem Reporter das Zuhören schwerfällt. Seine Aussteiger sind oft nicht gewohnt, daß ihnen jemand zuhört, sie reden viel, ihre Einsichten sind manchmal schlicht. Doch, so schreibt Grossarth, manche Schlichtheit schien ihm viel aufrechter als das Lächeln „der Städter“, die jede schliche Sicht „wegen ihrer geringen Ausdifferenziertheit abtaten und so die Möglichkeit, daraus Konsequenzen zu ziehen, unmöglich machten“.

Jan Grossarth: Vom Aussteigen und Ankommen. Besuche bei Menschen, die ein einfaches Leben wagen. Riemann Verlag, München 2011, gebunden, 320 Seiten, 18,95 Euro

Foto: Sitzkreis Im Ökodorf „Sieben Linden“ in Sachsen-Anhalt: „Jahre nicht zubringen wie ein Geschwätz“

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