© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Die Abschaffung der weißen Welt
Antikolonialismus: Eine Erinnerung an den Psychiater, Politiker und Schriftsteller Frantz Fanon, der vor fünfzig Jahren verstorben ist
Thorsten Hinz

Die Schriften von Frantz Fanon zu lesen heißt, sich auf geistige Abenteuer einzulassen. Durch sie betrachtet man die Welt aus der Perspektive der Völker, die lange unter der Vormundschaft europäischer Kolonialmächte standen und heute die Dritte Welt konstituieren. Dieser Blickwinkel erzwingt neue, auch erschreckende Einsichten in die globale Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Frantz Fanon wurde 1925 auf der Antilleninsel Martinique als Nachfahre schwarzer Sklaven geboren. Vor fünfzig Jahren, am 6. Dezember 1961, starb er in den USA an Leukämie. In seinem kurzen Leben vollendeten sich zahlreiche Begabungen. Fanon war französischer Staatsbürger, Angehöriger der algerischen Befreiungsbewegung und Botschafter der provisorischen Regierung Algeriens in Ghana. Er wirkte als Philosoph, politischer Theoretiker und Schriftsteller und praktizierte als Arzt und Psychotherapeut. Das Studium der Medizin und Philosophie gab ihm das Instrumentarium in die Hand, um die Zusammenhänge zwischen psychischer Krankheit und politischen Verhältnissen, zwischen Kollektiv- und Individualpsychologie treffsicher zu analysieren. Sein letzter großer Essay „Die Verdammten dieser Erde“, den er kurz vor seinem Tod abschloß, wurde zu einem Bezugstext der Befreiungsbewegungen und der Linken im Westen.

Aufsehen erregte er bereits 1952 mit dem Aufsatz „Schwarze Haut, weiße Masken“. Darin beschreibt er mit bildhafter Eindringlichkeit, wie die (weiße) Kolonialherrschaft den (schwarzen) Kolonisierten seiner Persönlichkeit beraubt, ihn entfremdet und von „außen überdeterminiert“. Für den Kolonisierten ist die Kolonialherrschaft total; sie ergreift neben Politik, Wirtschaft und Verwaltung auch die Kultur, die Religion und das Private. Der Kolonialherr macht den Kolonisierten zu „einer Art Quintessenz des Bösen“ und verwirft seine Sitten, Traditionen und Mythen – „vor allem seine Mythen“ – als Signaturen der Verderbtheit, welche die Auslöschung verdienen. Der Kolonisierte ist nicht nur ein Sklave der Fremdzuschreibung, sondern, schlimmer noch, der eigenen, falsch determinierten Entscheidung. Indem er versucht, in den Kategorien der anderen (der Weißen) zu denken, zu arbeiten, zu fühlen, ohne – allein schon aufgrund seiner Hautfarbe – in deren Welt aufgehen zu können, erleidet er einen Identitätsverlust und wird zu einem Zombie.

Folglich kann die psychische Befreiung aus der Zwangslage nur gelingen, wenn sie mit der politischen Befreiung verbunden wird. Der Befreiungskampf aber findet nicht als rationaler Diskurs über universelle Werte statt, sondern als „die wilde Behauptung einer absolut entgegengesetzten Eigenart“. Der Kolonisierte lache, „wenn er in den Worten des andern als Tier auftritt. Denn er weiß, daß er kein Tier ist. Und genau zur selben Zeit, da er seine Menschlichkeit entdeckt, beginnt er seine Waffen zu reinigen, um diese Menschlichkeit triumphieren zu lassen.“

Fanon spottete über die westlichen Sympathisanten, die mahnten, der Antikolonialismus dürfe nicht zum Sturz der westlichen Werte und damit zur Regression der Befreiten führen. „Die Gewalt, mit der sich die Überlegenheit der weißen Werte behauptet hat (...) führt durch eine legitime Umkehr der Dinge dazu, daß der Kolonisierte grinst, wenn man diese Werte vor ihm heraufbeschwört.“ Fanon verachtete die afrikanische Bourgeoisie und ihre Universitätslehrer als Platzhalter der Kolonialherren.

Gewalt galt ihm als „absolute Praxis“, als Ausdruck einer existentiellen Notwendigkeit und Entscheidung. In den Aufsätzen zum algerischen Befreiungskrieg verweist er darauf, daß die Unterdrückten von den Befreiungsbewegungen erst dann als zuverlässig angesehen werden, wenn sie nicht mehr in den Dienst des Kolonialherren zurückkehren können.

Der kenianische Stamm der Mau-Mau, der sich im Aufstand gegen die britische Herrschaft und die weißen Siedler befand, verlangte von allen Mitgliedern, einen Feind zu erschlagen und so alle Brücken hinter sich zu verbrennen. „Die Dekolonisation geschieht niemals unbemerkt, denn sie betrifft das Sein, sie modifiziert das Sein grundlegend, sie verwandelt die in Unwesentlichkeit abgesunkenen Zuschauer in privilegierte Akteure, die in gleichsam grandioser Gestalt vom Lichtkegel der Geschichte erfaßt werden. Die Dekolonisation ist wahrhaft eine Schöpfung neuer Menschen.“ Und: „Die nackte Dekolonisation läßt durch alle Poren glühende Kugeln und blutige Messer ahnen. Denn wenn die Letzten die Ersten sein sollen, so kann das nur als Folge eines entscheidenden und tödlichen Zusammenstoßes der beiden Protagonisten geschehen. Dieser ausdrückliche Wille, die Letzten an die Spitze rücken zu lassen (...) kann nur siegen, wenn man alle Mittel, die Gewalt natürlich eingeschlossen, in die Waagschale wirft.“

Die europäischen Massen, forderte Fanon, hätten sich mit der Dritten Welt zu verbünden. Man wolle keinen „Kreuzzug des Hungers gegen Europa“ führen, aber Europa müsse als Gegenleistung den „Menschen in seine Rechte einsetzen“. Den europäischen Reichtum reklamierte er kurzerhand zum Eigentum der Dritten Welt. Europa stünde genauso in ihrer Schuld wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg bei den von ihm überfallenen Ländern. Daher müsse es zahlen und zum „Sturmzentrum“ antikolonialer Veränderungen werden.

Tatsächlich wirkte die dezisionistische Entschiedenheit Fanons verführerisch auf die Studentenbewegung, die die Dritte Welt als Substitut für die nicht vorhandene revolutionäre Massenbasis in Westeuropa betrachtete. Denkt man Fanons Thesen jedoch zu Ende, laufen sie auf die Abschaffung der weißen Welt hinaus. Ihre partielle und subjektive Berechtigung ist unbestreitbar, doch die Identifizierung mit ihnen würde den europäischen Selbstmord proklamieren. In der Praxis ist aus den „Verdammten dieser Erde“ längst das „Heerlager der Heiligen“ (Jean Raspail) geworden, das mit der schieren Evidenz der Massen und dem Appell an das schlechte Gewissen der Nachfahren der Kolonisateure diese moralisch vor sich hertreibt.

Die Deutschen befinden sich in einer Zwischenposition: Einerseits gehören sie zur bedrohten westlichen Welt, andererseits sind sie spätestens seit 1945 gleichfalls Kolonisierte. Für sie vereint sich in Fanon die Gestalt des Feindes mit der des Freundes. Diesen Widerspruch intellektuell und politisch zu bewältigen, ist eine Frage des Überlebens.

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