© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  49/11 / 02. Dezember 2011

Auf der Suche nach einem neuen Kurs
Piratenpartei: Auf ihrem Parteitag am Wochenende wollen die Piraten ihr Programm erweitern und sich als Euro-Kritiker positionieren
Henning Hoffgaard

Eine Bruchlandung ist es nicht. Dennoch ist der Höhenflug der Piratenpartei, die in Umfragen zeitweise bei zehn Prozent gehandelt wurde, kurz vor dem am Wochenende stattfindenden Parteitag vorerst gestoppt. Wieder auf dem Boden der politischen Realitäten angekommen, müssen die Piraten derzeit viel Kritik und Häme einstecken. Sei es der in den Berliner Boulevard-Medien breitgetretene „Zickenkrieg“ zwischen dem frischgebackenen Abgeordnetenhausmitglied Gerwald Claus-Brunner und der Freundin seines Partei- und Parlamentskollegen Fabio Reinhard oder die auf einer Internetseite der Piraten aufgetauchten Verweise auf Kinderpornoseiten, die offenbar vom Hacker-Netzwerk Anonymous eingestellt wurden.

Während sich Parteichef Sebastian Nerz entsetzt distanzierte, nutzte die CDU den Vorfall, um der jungen Partei ein grundlegendes Scheitern an den politischen Realitäten zu unterstellen. Doch auch an anderen Fronten droht den Piraten Ärger mit der politischen Konkurrenz. So ließen die Grünen auf ihrem Parteitag am vergangenen Wochenende keine Möglichkeit aus, um sich an den Piraten abzuarbeiten. „Wir sind die einzigen, die so etwas haben“, jubelte Parteichef Cem Özdemir mit Blick auf einen von den Delegierten beschlossenen Leitantrag zu Netzpolitik und Urheberrechten. Also zwei Themen, bei denen die Piraten nicht müde werden, ihren Platzhirschstatus zu betonen.

Auch die anderen Parteien haben mittlerweile nachgezogen. Kaum ein Bundestagsabgeordneter verzichtet heute noch auf den Kurznachrichtendienst Twitter oder ein Facebook-Profil. Zumindest in einem Punkt haben SPD, CDU, FDP und Co. noch die Nase vorn. Während das Grundsatzprogramm der Grünen auf 170 Seiten kommt, müssen sich die etwa 18.000 Mitglieder der Piratenpartei mit mageren 26 Seiten begnügen. Man habe sich eben noch nicht zu jedem Thema eine Meinung gebildet, sagte der Fraktionsvorsitzende der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus, Andreas Baum, dazu. Wer sich die Flut von Anträgen zur Änderung des Partei- und Wahlprogramms vor dem Parteitag anschaut, weiß, daß sich das nun gründlich ändern soll.

Urheberrecht, Datenschutz, Transparenz, digitales Leben: Darum soll es künftig nicht nur noch gehen. Hartz IV, Mindestlohn, Europapolitik, Finanztransaktionssteuer und Ladenöffnungszeiten stehen auf der Tagesordnung des Parteitages. Zumindest beim Thema Euro herrscht seltene Einigkeit. Zwar bekennen sich alle Anträge ausdrücklich zur Rolle Deutschlands innerhalb der Europäischen Union, eine Vergemeinschaftung von Schulden durch ESM und Euro-Bonds wird zumeist jedoch abgelehnt. Ganz oben auf der Prioritätsliste der Parteimitglieder steht nach basisdemokratischer Entscheidung allerdings ein Antrag der Arbeitsgemeinschaft Drogen, nach deren Willen bereits Schüler im „Kindesalter gezielt vermitteltes selbstbestimmtes Verhalten“ lernen sollen. Auch sonst dominieren eher linke Initiativen. So fordert eine Gruppe unter dem Titel „Migration bereichert die Gesellschaften“ eine weitgehende Absenkung der Zuwanderungshürden, und gleich sechs Anträge setzen sich für die Einführung eines Mindestlohns oder Grundeinkommens ein. Wie diffus die Meinungsbildung zuweilen verläuft, zeigt sich an den unterschiedlichen Ansätzen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Hier müssen die Delegierten am Wochenende über drei völlig unterschiedliche Anträge abstimmen, deren inhaltliche Spannweite von einem Totalverbot von Bundeswehreinsätzen im Ausland bis zur offensiven Sicherung der deutschen Handelswege, auch ohne ausdrückliches Mandat der Staatengemeinschaft, reicht.

Die sich andeutende programmatische Erweiterung der Partei dürfte bei Parteichef Nerz allerdings auf wenig Gegenliebe stoßen. Bisher galt der als Vertreter des Piratenflügels, der sich für eine Konzentration auf die Kernthemen Internet und offene Netzte einsetzte. Ob die mehr als 6.000 Neumitglieder, die nach dem Erfolg in Berlin beitraten, das ähnlich sehen, ist unwahrscheinlich. Hatte der erfolgreiche Berliner Landesverband doch eben auf den Mindestlohn gesetzt, den Nerz immer abgelehnt hatte. Um die auseinanderstrebenden Parteiflügel zu einen, soll besonders das Amt des politischen Geschäftsführers der Piraten gestärkt werden, das aktuell Marina Weisband innehat.

Die umtriebige Studentin, die in der Frage nach dem Umgang mit ehemaligen NPD-Mitgliedern auf Distanz zu Nerz gegangen war, der dabei von „Jugendsünden“ sprach, soll nach dem Willen eines Teils der Partei mehr Macht und eine Vollzeitanstellung bekommen. Mit klaren politischen Vorstellungen hält Weisband sich bisher zwar bedeckt, welchen Kurs sie einschlägt, deutete Weisband im Oktober über Twitter jedoch bereits an: „Bin jetzt erst wieder zu Hause. War mit der taz unterwegs. Habe viele neue politische Ideen.“

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