© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Der Flaneur
Auf der Deichkrone
Felix Springer

Die alte, steinerne Brücke sieht heute viel kürzer aus als sonst. Es muß flußaufwärts, im Süden, ungewöhnlich starke Regenfälle gegeben haben; der Strom hat sich für einige Tage seine Kraft zurückgegeben und sein Bett um nahezu das Zweifache verbreitert. Er wird auch diesmal harmlos bleiben, denke ich, und während ich bequemen Schrittes die Deichkrone abschreite, höre ich genau auf die Gurgel- und Schlucklaute des hilflos auf- und abtauchenden Treibguts und besehe die tiefen, springenden Wirbel an den Brückenpfeilern.

Der spärlich bewachsene Deich, auf dem mein Weg verläuft, ist das Ergebnis jahrzehntelanger, harter Arbeit. Die Berechnungen kluger Ingenieure und der Schweiß vieler kräftiger Arbeiter haben ihn als Teil eines Systems aus breiten Wällen, Schleusen und Überflutungsgebieten in die Landschaft eingefügt. Hier sind die Erfahrungen von Generationen zum Schutz der Stadt zusammengekommen.

Ein blaues Schild beendet mit dem Hinweis auf Bauarbeiten abrupt meinen Weg. Wo unser fester Wall sein sollte, schlägt nun eine provisorische Asphaltstraße einen direkten Weg aus der Stadt mitten in das bewaldete Überflutungsgebiet.

Die vom Wasser krummen Linden und Eichen sind abgeschlagen und an ihrer Stelle viele Gruben ausgehoben, ein am Zaun angebrachter Hinweis weist den Bau eines dringend benötigten neuen Verwaltungsgebäudes aus Glas und Stahl aus. Obwohl die Sonne schon unter dem Horizont steht, herrscht auf dem Areal noch reges Treiben. Bevor im Winter der Boden festfriert, soll alles stehen.

Ich blicke noch einmal zur steinernen Brücke zurück und sehe mir die Hochwassermarkierungen aus dem letzten Jahrhundert an. Wind zieht auf, der Fluß rauscht lauter, die Wellen schlagen höher.