© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Verankerungen lösen
Multikulturelle Geographie
Oliver Busch

Wie sieht das „geographische Weltbild“ im Zeitalter der Globalisierung aus? Eine Frage, auf die Geographen seit 1990 in hektischer Betriebsamkeit eine Antwort zu finden versuchen. Wie dem Themenheft „Kulturräume“ der Didaktiker-Zeitschrift Geographie und Schule (10-2011) zu entnehmen ist, gewinnen die dezidiert „weltstaatlichen“ Konturen einer Geographie des postnationalen Zeitalters merklich an Prägnanz.

Verpönt sind heute jene „Kulturraumkonstrukte“, die in den Anfängen der Geographie als Universitätsfach nach 1870 wurzeln und deren letzter Verfechter, Jürgen Newig, im Sommer 2005 seine Kieler Abschiedsvorlesung hielt. Bereits lange vor Newigs Emeritierung galt sein Konzept der „Kulturerdteile“ als suspekt. Die Hamburger Lehrerin Wiebeke Böge, die 1997 über das „Weltbild der deutschsprachigen Geographie seit 1871“ promovierte, kritisiert den „nimmermüden Streiter“, weil er mit einem Begriff von Kultur operiere, der Kulturen als reale, natürlich gegebene Entitäten fasse, mithin „essentialistisch“ darüber hinwegtäusche, daß Kulturen und die ihnen zugewiesenen Räume lediglich in kollektiven „Diskursen hergestellt werden“.

Böge kommt es hingegen auf „Flexibilisierung“ der hergebrachten „Stereotypen“ an. Wie spätestens seit 1989 die Vorstellung des „Drei-Welten-Modells“ obsolet geworden sei, so habe seitdem die Globalisierung selbst das erweiterte Konstrukt eines Pluriversums der Großräume und -mächte problematisch werden lassen. Bei der Arbeit „mit Erdeinteilungen“ solle heutigen Schülern „als vornehmste Pflicht“ lieber „die Kontextualität“ überkommener Ordnungsraster vermittelt werden. Mit ihrem Gegenstand scheint sich sogar die alte Schulgeographie aufzulösen, die an neu eingerichteten Hamburger Stadtteilschulen gar nicht mehr in Versuchung kommt, Orientierungen über Räume, Kulturen und Grenzen zu geben. Denn in der Sekundarstufe I ist sie im „Lernbereich Gesellschaft“ aufgegangen, wo sie nur zusammen mit politischen und historischen Themen auf dem Stundenplan steht.

Hand in Hand arbeiten Didaktiker und Wissenschaftstheoretiker der Geographie also daran, ihren Beitrag zur Bewußtseinsformierung in der globalisierten Lebenswelt zu leisten. Durch besondere, offenkundig multikulturalistisch und „kosmopolitisch“ motivierte Radikalität fällt dabei der am Passauer Lehrstuhl für Anthropogeographie tätige Jörg Scheffer auf. Wie Böge sind ihm Kulturen nur Erzeugnisse vormoderner „holistischer, ganzheitlicher“ Idealisierungen, wobei ihm der „nationale Holismus“ samt seiner Suggestion „kultureller Homogenität“ das größte Hindernis auf dem Weg zu einer Geographie zu sein scheint, die „Entankerungsprozesse“ anstoßen soll, Kulturzugehörigkeiten „pluralisiert und grenzüberschreitende Gemeinsamkeiten sichtbar“ macht.

Einer derart ideologisierten Geographie, die die kulturellen Vermischungsprozesse stark betont, traut Scheffer auch den Sprung über höchste Hürden zu. Man müsse nur „keinesfalls den Fehler machen“, aus der Unterschiedlichkeit der Religionen eine Unterschiedlichkeit der Kulturen abzuleiten. Dann läßt sich etwa der Totalitätsanspruch des Islam locker ignorieren. Scheffers Weltkarte kennt folglich nur „islamisch geprägte Regionen“. Dem monolithischen Islam verleiht diese semantische Roßtäuscherei eine multikulturalistische Aura und zugleich stiftet sie die „Gemeinsamkeit“ mit der „islamischen Region“ Europa.