© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Vom Glück der einfachen Dinge
Aktivistin im Dienste der Askese: Die indische Globalisierungs- und Kapitalismuskritikerin Arundhati Roy wird fünfzig
Silke Lührmann

Man kann Arundhati Roy alles mögliche vorwerfen – frau selbstverständlich ebenso, schließlich sind die Zeiten, in denen ein Minimum an Solidarität unter Schwestern unerläßlich war, längst vorbei. Man kann, und man tut es immer wieder, gerne und gönnerhaft: Ihren schrillen Tonfall. Ihr manichäisches Weltbild. Ihre kompromißlose Haltung. Andersherum: ihre naive Traumtänzerei. Ihr historisch hundertfach widerlegtes Beharren auf der Möglichkeit, nein: Unverzichtbarkeit eines menschenwürdigen Daseins für alle. Welches Recht sie sich überhaupt anmaße, als Tochter eines Teeplantagenbesitzers und einer Frauenrechtlerin, die zunächst Architektur studierte und dann als Drehbuchautorin in der boomenden indischen Filmindustrie jobbte, bevor ihr der Booker-Preis für ihren ersten und einzigen Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ (1997) unerwarteten Ruhm und Reichtum bescherte, für die Entrechteten und Enteigneten zu sprechen?

Vor genau zehn Jahren, in den fiebrigen Monaten nach dem 11. September 2001, als das anfängliche „Wir sind Amerika“-Pathos schon im Altpapier entsorgt war und neue Schlagzeilen hermußten, hatten solche Stimmen hierzulande plötzlich Konjunktur: Ihnen Schadenfreude vorzuwerfen, hieße ihre Argumente propagandistisch zu verkürzen; zumindest aber galt ihre Trauer emphatisch nicht ausschließlich den amerikanischen Opfern jener Ereignisse, die unter dem Kürzel „9/11“ den eigentlichen Beginn des dritten Jahrtausends westlicher Zeitrechnung markierten („Freiheit für die einen ist Sklaverei für die anderen“, JF-Interview 42/01). Mittlerweile scheint man ihrer wieder überdrüssig zu sein.

Die bornierte Häme jedenfalls, die Zeit-Kulturredakteurin Iris Radisch jüngst über ihre Interviewpartnerin Roy ausgoß, hat sie wahrlich nicht verdient. Das ganzseitige Armutszeugnis der bundesbürgerlichen Intelligenzija, das zwei Wochen vor Roys 50. Geburtstag erschien, wirft mehr Fragen auf, als es beantwortet. Spielt Radisch hier die Teufelsanwältin? Oder: Welcher Teufel mag sie geritten haben, daß sie sich derart dummdreist zur Schutzpatronin der kapitalistischen Marktwirtschaft, zur Verteidigerin des freien Westens gegen die Realitäten der globalen Verelendung aufschwingt?

Spricht daraus die klammheimliche Scham über den Verrat des europäischen Linksliberalismus an den eigenen Werten? Oder doch eher die nicht minder beschämende Erkenntnis, daß Solidarität – ob im Geschlechter- oder im Klassenkampf – angesichts zunehmender Ressourcenverknappung und Umweltverheerung zu jenen Luxusgütern gehört, die wir Globalisierungsgewinnler uns am allerwenigsten leisten können? Dabei sollte sich doch allmählich sogar bis in die Redaktionsräume der Zeit herumgesprochen haben, daß die konsumistische Wegwerfgesellschaft, deren K.o.-Sieg im Kalten Krieg voreilig als „Ende der Geschichte“ gefeiert wurde, mittlerweile nicht nur moralisch bankrott ist. Alternativen dringend gesucht.

Eine Übersetzung, in der Roy putzigerweise der eigenen Mutter attestiert: „Sie genießt sich selbst“, bietet ihr wenig Gelegenheit, die stilistische Brillanz, die ihre schärfste, um nicht zu sagen: einzige Waffe ist, zur Geltung zu bringen. Geduldig pariert sie eine Attacke nach der anderen, hat aber letztlich weder eine Chance gegen die Deutungshoheit ihrer Widersacherin noch wohl ein Interesse, ihr dieselbe abzusprechen. Sie wolle den Westen nicht bekehren, beteuert Roy. „Es ist mir egal, ob in Europa jede Familie zwei Autos braucht. Es nutzt nichts, wenn ich sage, daß sie die nicht braucht. (…) Wozu soll ich die Leute davon überzeugen, nicht zu shoppen? Die westliche Welt wird sich doch erst verändern, wenn diejenigen, die mit dem Rücken zur Wand stehen, diese Veränderung erzwingen.“ – „Glück“, so schreibt sie Radisch ins Stammbuch, „ist, wenn man ohne Haut lebt. Wenn man sich nicht verschließt.“ Alles an sich heranläßt.

Die Gretchenfrage nach der Kunst und Kultur – was sie sei, Opium der Bourgeoisie oder Grundbedürfnis jedes Menschseins, und was sie bewirke, ob sie Trugbilder vorgaukle oder aber der Wirklichkeit einen Spiegel vorhalte – braucht keine der beiden Frauen, weder die Schriftstellerin noch die gestandene Literaturkritikerin, sonderlich zu interessieren.

Die eine hat seit ihrem Booker-gekrönten Debüt auf weitere Ausflüge in die Belletristik verzichtet, das Talent, das ihr so verschwenderisch in die Wiege gelegt wurde, auf dem Altar der großen Dinge geopfert. Als „Weltbürgerin und Aktivistin“, wie sie sich selber bezeichnet, ergeht sie sich nun in eloquenten Wortschwällen, um Askese zu predigen.

Dafür muß sie sich von der anderen belehren lassen, die Rede vom falschen Bewußtsein sei aber doch längst aus der Mode gekommen! Wahr ist wohl, daß die Postmoderne sich nach Kräften bemüht hat, die Grenzen zwischen Schein, Sein und Nichts – mal spielerisch, mal voll akademischer Inbrunst – zu verwischen, während ein Großteil der Welt weiterhin ums nackte Überleben kämpfte.

Sind wir nicht alle ein bißchen Mittelklasse, hält Radisch kokett dagegen, als sei alles nur eine Frage der richtigen Einstellung zur verkehrten Welt. Auf die Leserschaft ihrer Zeitung mag das zutreffen, auf Roys indische Landsleute weniger – an der Schwelle zwischen Kastensystem und Turbokapitalismus leben dort nach Angaben der Weltbank über 40 Prozent der Bevölkerung unterhalb der internationalen Armutsgrenze von 1,25 US-Dollar am Tag.

„Der Gott der kleinen Dinge“ ist die todtraurige, betörend schön geschriebene Geschichte einer verbotenen Liebe, eine Märchenerzählung mit biographischem Hintergrund und politischen Themen und, wie der Titel schon sagt, eine Hymne an die Schrecken und Wunder des Alltags. „In jenen frühen amorphen Jahren, als das Leben nur aus Anfängen bestand und nichts ein Ende hatte, als alles für immer war …“

Diese romantische Weltsicht prägt auch Roys politische Polemiken, eben daraus schöpft sie die Überzeugung, daß die Menschen ohne Haarfestiger und Spülmaschine, ohne Klimaanlage und BMW glücklich werden könnten, wenn man sie nur ließe. Das Herzstück ihres neuen Buches „Broken Republic“ bildet eine Reportage über die drei Wochen, die sie mit den maoistischen Naxaliten verbrachte, die in den Urwäldern Zentralindiens gegen den einfallenden Raubtierkapitalismus kämpfen. Darin gerät sie ins Schwärmen über die Schönheit der Nächte unter freiem Himmel, „meine Privatsuite in einem Tausend-Sterne-Hotel“.

Dabei ist sie stets schonungslos in ihren Analysen der Zustände in und außerhalb Indiens, läßt an Barack Oba-ma fast noch weniger ein gutes Haar als einst an seinem Vorgänger und gibt sich keinen Illusionen über die Erfolgsaussichten eines gewaltlosen Widerstands hin. Welchen Sinn habe es, wenn die Hungrigen in den Hungerstreik träten, so argumentierte sie unlängst in einem Interview mit dem Guardian. „Gewaltloser Widerstand ist ein Schauspiel. Man braucht dazu ein Publikum. Was soll man machen, wenn man kein Publikum hat?“ Sie, die ein weltweites Millionenpublikum hat, habe auch keineswegs vor, einen neuen Roman zu schreiben, um den Raubbau an ihrem Heimatland anzuprangern; die Literatur sei „zu kostbar, um sich mit einem bestimmten Thema zu befassen. Sie sollte sich mit allem befassen.“

„Sie sind jetzt 52 Jahre alt. Wie wird Ihre Zukunft aussehen?“ gibt Iris Radisch ihr zum Abschied mit auf den Weg. Bis es am 24. November 2013 tatsächlich soweit ist, wird hoffentlich noch viel von der zierlichen Frau mit der schrillen Stimme und dem mani-chäischen Weltbild zu hören sein.