© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Blutige Kämpfe
Rechtsterrorismus: Ein vergleichender Rückblick auf die Weimarer Jahre bedarf der Differenzierung
Karlheinz Weissmann

Zu den bizarrsten Deutungen der Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ gehören die, die eine Kontinuität zu den „Feme“-Morden der Weimarer Zeit behaupten. Die Ursache dafür ist nicht nur ein linkskonformistisches Geschichtsbild, dessen Kerngedanken bis ins letzte bürgerliche Feuilleton gedrungen sind, sondern auch das verzweifelte Bemühen, die besondere Gefährlichkeit des aktuellen Rechtsterrorismus dadurch zu erweisen, daß man ihn mit der „Avantgarde des Nazismus“ (Robert G. L. Waite) verknüpft. Die Sicherheit des moralischen Urteils über die Kapp-Putschisten oder Rathenau-Mörder wird so auf Vorgänge übertragen, die einer differenzierteren Betrachtung bedürfen.

Ein erster Schritt in diese Richtung wäre die Beachtung des Zusammenhangs von Ursache und Folge: Die Ursache waren linke Gewaltakte, rechte Gewaltakte die Folge. Zwar kann man die Revolution vom November 1918 als eine der unblutigsten in der Weltgeschichte betrachten, aber selbstverständlich gab es in ihrem Verlauf Übergriffe, wurden bei Meutereien Offiziere verletzt und getötet, kam es zum Sturm auf Gefängnisse, deren Insassen – auch die Gewohnheits- und Schwerverbrecher – man befreite, und die sich im Chaos der folgenden Monate, mit „Handgranaten und dem Rechte des 9. November bewaffnet“ (Hans von Hentig), ein kleines oder größeres Reich eroberten, war die Polizei unwillens oder außerstande, die Ordnung aufrechtzuerhalten, Straftaten, auch schwere, zu verfolgen und für deren Ahndung zu sorgen.

Bis zu einem gewissen Grad sind solche Vorgänge notwendige Begleitumstände eines gesellschaftlichen Zusammenbruchs. Anders verhält es sich mit den Folgen jener Strategie der äußersten Linken, der USPD und der KPD, die Revolution weiterzutreiben. Vom Spartakusaufstand im Januar 1919 über die Errichtung der Münchener Räterepublik, die Frühjahrsunruhen vor allem in Berlin und im Ruhrgebiet, die „Märzaktion“ der KPD von 1920, die Aufstellung und Bewaffnung „Proletarischer Hundertschaften“ in Thüringen und Sachsen 1922, bis zum Hamburger Aufstand 1923, der als Beginn eines „Deutschen Oktober“ vorgesehen war, zog sich eine blutige Spur linker Gewaltakte.

Und selbst wenn man die 156 Toten vom Januar 1919, die mehr als 500, die in München ums Leben kamen, die etwa 1.200 Personen, die bei den Auseinandersetzungen im Frühjahr starben, die 70 Toten der Dortmunder Straßenkämpfe vom März 1920 und die 100 Toten des „Deutschen Oktober“ als Opfer von Kampfhandlungen betrachtet, gilt dasselbe keineswegs für die 14 Sozialdemokraten und Liberalen, die am 19. Januar 1919 gegen den kommunistischen Putsch im Rheinland demonstriert hatten und von einer Maschinengewehrgarbe getroffen wurden, oder für die zehn Geiseln im Münchener Luitpold-Gymnasium, die Angehörige der „Roten Armee“ ermordeten, oder für die während des Ruhraufstands getöteten Verwundeten, die man in Wetter in einem behelfsmäßigen Lazarett untergebracht hatte, oder für die 42 Angehörigen der Essener Einwohnerwehr und Sicherheitspolizei, die einen Wasserturm zu schützen versuchten und vom Mob massakriert wurden.

Carl Wilhelm Severing, der von der Reichsregierung ins Ruhrgebiet entsandte Kommissar, hat die Härte seiner Maßnahmen ausdrücklich gerechtfertigt unter Hinweis auf die zahllosen „Mitteilungen von Erpressungen und Brandschatzungen, von Mißhandlungen und Erschießungen“ durch die roten Truppen, und der Reichswehrminister Gustav Noske, wie Severing Sozialdemokrat, schrieb 1920, daß zwar die Umstände der Liquidierung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Abscheu erregten, daß aber angesichts der Angst vor einer Bolschewisierung des Reiches „in jenen Schreckenstagen Tausende die Frage aufgeworfen hatten, ob denn niemand die Unruhestifter unschädlich mache“. Immer wieder hätten „Unabhängige und Spartakisten (…) verbrecherisch (…) Menschenleben aufs Spiel gesetzt“ und kein Wort des Bedauerns gefunden, wenn Soldaten und Offiziere der Regierungstruppen gelyncht wurden.

Bemerkenswert ist, daß Noske nicht nur den Parteiblättern von KPD und USPD Verhetzung vorwarf, sondern auch denen der Mehrheitssozialdemokratie, und: „Die Zahl der Menschen, die infolge der Treiberei der Unabhängigen und Kommunisten den Tod fand, wird kaum festzustellen sein. Die Führer dieser Parteien haben eine ungeheure Blutschuld auf sich geladen.“

Wenn dem „roten“ der „weiße Terror“ antwortete und es dabei zu Exzessen kam, ist diese Abfolge der Ereignisse im Blick zu behalten und zu beachten, welche psychologische Wirkung nicht nur Zusammenbruch und Niederlage hatten, sondern auch die aktive Teilnahme der Sowjetunion an der Revolutionierung Mitteleuropas, die Vertreibung von Deutschen, die Grenzkämpfe und die Bekanntgabe der Friedensbedingungen.

Das galt vor allem für ehemalige Soldaten und jene „nationale Jugend“, die zwar nicht mehr zum Einsatz gekommen war, aber die Demütigung um so schmerzlicher empfand. Wenn sich aus ihren Reihen nach dem Scheitern des Kapp-Putsches ein rechter Untergrund entwickelte, der in der Folgezeit Attentate durchführte und wirkliche oder vermeintliche Verräter in den eigenen Reihen liquidierte – daher der Begriff „Feme“ –, ist festzustellen, daß diese Vorstöße ohne politischen Erfolg blieben – gerade die Ermordung Rathenaus erregte allgemein Abscheu –, und daß die Neigung der Gerichte, in manchen Fällen schwer nachvollziehbare Milde walten zu lassen, auch mit der Wahrnehmung einer weiter andauernden, existentiellen Bedrohung von links zu tun hatte.

In den Entscheidungen des Staatsgerichtshofs und des Reichsgerichts wurde seit Anfang der zwanziger Jahre kontinuierlich darauf hingewiesen, daß die KPD als Teil der Komintern zu betrachten sei, daß sie deren revolutionäre Ziele teile, daß sie aktiv auf die gewaltsame Machtübernahme hinarbeitete, zu diesem Zweck „Partisanenbanden“ bilde und mehrfach versucht habe, sich in den Besitz von Waffen zu bringen, daß sie individuellen Terror unter Einschluß der Ermordung von Spitzeln oder Repräsentanten des Staates als legitim betrachte und daß sie nach dem „Versanden“ der rechten Umsturzversuche die „einzig gefährliche revolutionäre Vereinigung“ bleibe.

Selbstverständlich hat die Linke – unter Einschluß weiter Kreise der SPD – von diesem Sachverhalt immer wieder abzulenken versucht und einer Deutung den Vorzug gegeben, wie sie Emil Julius Gumbels Buch „Vier Jahre politischer Mord“ zugrunde lag. Darin wird das Bild eines im Kern reaktionären Staatsapparats gezeichnet, der zur Erreichung seiner Ziele eine linke Gefahr phantasierte, die es ihm erlaubte, der radikalen Rechten mit Nachsicht zu begegnen und sie fallweise als Verbündete zu nutzen.

Gumbels „Statistik“, in der 354 politischen Morden von rechts gerade 22 von links gegenüberstehen, ist nur mit seiner Parteilichkeit zu erklären. Wer sie heute wieder aufgreift, sollte sich wenigstens klarmachen, daß er Argumente aus dem politischen Tageskampf der zwanziger Jahre übernimmt, nicht aber der kritischen Sicht des Historikers folgt.

Foto: Arbeiter um eine MG-Stellung während des Hamburger Aufstandes 1923: „… ob denn niemand die Unruhestifter unschädlich mache.“