© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Pankraz,
Steven Pinker und die Engel der Gewalt

Die vielleicht grausamste Gewalt, die einem Menschen je angetan wurde, geschah in Paris im Jahre 1757, mitten im Zeitalter der Aufklärung. Ein ländlicher Gelegenheitsarbeiter namens Robert Damiens, der nicht ganz richtig im Kopf war, stürzte sich, mit einem kleinen Messer bewaffnet, aus der Menschenmenge heraus auf den französischen König Ludwig XV., der gerade in seine Kutsche einsteigen wollte, und ritzte ihm leicht die Haut. Er wurde von den Wachen sofort überwältigt und in die Conciergerie gebracht.

Damiens erklärte, er habe den König nur erschrecken wollen. Gleichwohl wurde er nach allen Regeln der Kunst gefoltert, so daß er schon nach dem ersten Verhörtag die Beine nicht mehr bewegen konnte. Er versuchte, sich selbst umzubringen, aber das mißlang. Das Gericht verurteilte ihn kurze Zeit später dazu, zunächst kniend vor der Kathedrale von Notre Dame Gott, König und Justiz um Vergebung zu bitten; dann sollte er noch einmal gründlich und öffentlich durchgefoltert werden, danach sei ihm die „Täterhand“ mit brennendem Schwefel zu verkohlen und er selbst lebendigen Leibes von sechs Pferden in Stücke zu reißen.

Genau so geschah es. Flüssiges Wachs, Pech, Blei und kochendes Öl goß man in seine tiefen Folterwunden. Doch die sechs Pferde schafften es anschließend nicht, ihn zu zerreißen. So wurden ihm erst die Arm-, dann auch die Beinsehnen durchgeschnitten, dann war’s endlich getan. Damiens’ Körperteile wurden zu Asche verbrannt, sein Geburtshaus in Arras niedergerissen und über den Platz ein Bauverbot verhängt. Seinen drei Geschwistern wurde bei Androhung der Todesstrafe befohlen, ihre Namen zu ändern. Seine Eltern und seine kleine Tochter mußten Frankreich „sofort und für immer“ verlassen.

Wie gesagt, dergleichen geschah mitten im Zeitalter der Aufklärung und des Laisser-faire, der Enzyklopädisten und der Madame de Pompadour. Einige prominente Repräsentanten des „neuen Geistes“, zum Beispiel Giacomo Casanova, waren Zuschauer der Hinrichtung; der Herzog du Croy, ein bekannter Haudegen und Liebling der liberalen Salons von Paris, war sogar mit der Untersuchung und Aufdeckung des Damiens-Attentats beauftragt gewesen. Einzig Voltaire äußerte sich damals kritisch und verächtlich über die Affäre, wenn sein Zorn hier auch lange nicht jenes Format erreichte, das er kurz darauf für den „Fall Calas“ aufbrachte.

Erinnert man all das, so ist man spontan geneigt, den Thesen des amerikanischen Biologen und Historikers Steven Pinker vorbehaltlos zuzustimmen, der gesagt hat, so etwas wie die Hinrichtung Damiens’ könne heute in keinem Winkel der Erde mehr vorkommen und das sei ein Beweis dafür, daß sich die Menschheit – allen neueren Vorkommnissen zum Trotz – unaufhaltsam zum Humaneren fortentwickle. Es gebe in der Welt, unterm Strich gerechnet, bei anstehenden „Konfliktlösungen“ immer weniger Gewaltanwendung; dies sei gleichsam das Kulturgesetz schlechthin.

Pinkers Buch ist ein gewaltiger Wälzer von über 1.200 Seiten; es wimmelt in ihm von Graphiken, Entwicklungskurven, statistischen Erhebungen, eine zähe, aber sehr faktenreiche Lektüre. Soeben ist es, unter dem Titel „Gewalt“, auch auf deutsch (im S. Fischer Verlag) erschienen, der Autor selbst kam zu seiner Vorstellung extra nach Berlin und stellte sich der Diskussion. Freilich, sein Publikum (inklusive Pankraz) überzeugte er nicht, die große Mehrheit blieb skeptisch.

Am wenigsten durchschlagend klang noch das Mengenargument. Einige Kritiker wiesen auf die schiere Quantität neuzeitlicher Gewaltanwendungen hin, auf die ungeheure Menge gegenwärtiger oder erst jüngst vergangener Konzentrationslager, Folterkeller, Bomben- und Raketenangriffe; denen gegenüber nähme sich die Gewalt früherer Zeiten ja geradezu als vernachlässigbar aus. Darauf entgegnete Pinker: Bezogen auf die Bevölkerungszahlen einst und jetzt war der Prozentsatz antiker oder mittelalterlicher Gewalttaten mit Todesfolge viel, viel höher als der der heutigen.

Ist Gewalt aber denn, so wäre gleich dagegen zu fragen, lediglich eine Frage der Quantität? Manifestiert sie sich vielmehr nicht vorrangig qualitativ, nämlich in der Vielfalt und Intensität der Gewaltmethoden, die angewendet werden? Unter „Qualitätsgesichtspunkten“ betrachtet, hat die allgemeine Kulturentwicklung – Pinker sei’s geklagt – seit den Zeiten der Neandertaler stets nur zur Steigerung von Gewalt geführt. Je mehr Wissenschaft und Theologie, so könnte man ohne weiteres formulieren, desto wirksamere Methoden der Gewaltanwendung.

Vom bloßen Totschlagen und Auffressen in der Urhorde führte der Weg über die verschiedenen Opferrituale der alten Hochkulturen und über die „aufgeklärten“ Schmerzzufügungen à la Damiens in der frühen Neuzteit bis zu den modernen Formen der „psycho-physischen Kombination“ in den Exportfolterkellern der Gegenwart. Nicht wenige Psychologen sind der Meinung, daß Gefangene noch eher „kochendes Öl in schwärenden Wunden“ ertragen können als gewisse raffiniert ausgedachte Tricks moderner Psycho-Folterer.

Steven Pinkers Buch heißt im Originaltitel übrigens nicht „Gewalt“, sondern „The Better Angels of our Nature“ („Die besseren Engel unserer Natur“). Den wuchtigen deutschen Titel hat der Frankfurter Verlag von sich aus erfunden. Pinker soll damit einverstanden gewesen sein, nicht zuletzt deshalb, weil es im Englischen gar keine zusammenfassende Vokabel für das gibt, was alles man unter „Gewalt“ verstehen kann.

Im Deutschen ist es an sich kaum anders. „Gewalt“ kommt vom althochdeutschen waltan und bedeutete lange Zeit nichts weiter als stark sein, herrschen. Beileibe nicht jede Form von Stärke und Herrschersinn ist aber vorab des Teufels, auch „Waltan“ ist ein „Angel“ unserer Menschennatur. Nur gibt es eben auch noch andere, sogar bessere. Auf diese sollte man primär hören, selbst wenn die reale Kulturentwicklung sie nicht unbedingt zu befördern scheint.