© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Der Revolution folgt das Chaos
Ägypten: Statt der erwarteten Wahlkampfstimmung wiederholen sich die Bilder vom Frühjahr / Kritik an „Mubarak-Vasallen“
Marc Zöllner

Es herrscht Chaos in Ägypten und das gerade kurz vor der historischen Parlamentswahl zum 28. November. Brennende Kirchen, zerstörte Sufi-Schreine, Massendemonstrationen mit Hunderttausenden Teilnehmern auf den zentralen Straßen Kairos und Alexandrias, von Heckenschützen ermordete Demonstranten – Details einer nationalen Revolution, die ihr Ende nicht zu finden vermag. Im Zentrum der Proteste: der berühmte Tahrir-Platz. Jener schicksalsträchtige Ort im Herzen Kairos, auf welchem am 25. Januar 2011 eine landesweite Unruhe ihren Ausgang nahm, die am Ende dem verhaßten Präsidenten Husni Mubarak Amt und Freiheit kosten sollte.

Doch wo sich anfänglich noch Zivilisten und Militärs verbrüderten, um ein Blutvergießen zu vermeiden, fahren nun Panzer und Wasserwerfer auf, um sich Straßenschlachten mit Tausenden von aufgebrachten Jugendlichen zu liefern. Tränengasgranaten und Gummigeschosse zerschellen in der Menge, minütlich treffen neue Krankenwagen ein. Die Zahl der Toten wuchs bis Montag abend auf 22 an, die Zahl der Verletzten auf über 1.800.

Unter dem Druck eskalierender Gewalt verkündete das ägyptische Interimskabinett in der Nacht zum Dienstag nun, beim Militärrat Ägyptens sein Rücktrittsgesuch einzureichen. Den Protestierenden jedoch genügt dieser Schritt nicht. „Wir fordern das Ende des Feldmarschalls!“ ertönen Sprechchöre. „Stellt Tantawi vor Gericht!“

Mohammed Hussein Tantawi, das ist der Vorsitzende des de facto regierenden Militärrats und mithin der mächtigste Mann im Staat. Der 1935 im unterägyptischen Tanta geborene Militärwissenschaftler verdiente sich frühzeitig schon seine Sporen in der Politik, erst als Offizier in den drei israelisch-ägyptischen Kriegen unter den Präsidenten Gamal Abdel Nasser und Anwar El Sadat, später als Feldmarschall im Zweiten Golfkrieg unter Husni Mubarak. Als des Diktators loyalster Getreuer führte er von 1991 an bis zum Sturz Mubaraks das Verteidigungsministerium und galt seit Mitte der Neunziger als dessen potentieller Nachfolger. Nach der Februarrevolution und dem Fall seiner einstigen Protegés gilt er als letzter Garant zur Sicherung des Einflusses des ägyptischen Militärs in Politik und Gesellschaft. Daß verschiedenste Parteien ihm nun vorhalten, die Wahlen zugunsten der Errichtung eines Militärregimes gefährden zu wollen, darf somit nicht verwundern.

Tantawi dient nicht grundlos als Sündenbock für die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz. Vor allem junge Ägypter sehen in den Entscheidungen des Militärrats der letzten Wochen die konsequente Fortsetzung der Politik Mubaraks. So konnte eine von Tantawi erarbeitete Wahlreform, ein Drittel der ab Ende November zu nominierenden Parlamentssitze parteiunabhängigen Kandidaten zu reservieren, lediglich durch Drohungen der Liberalen und Islamisten, die Wahlen zu boykottieren, verhindert werden. Von der Unabhängigenklausel wiederum hätten vor allem die in den ländlichen Regionen Ägyptens noch immer aktiven, in ihren Seilschaften vernetzten und finanziell hervorragend ausgestatteten Mubarak-Vasallen der ehemaligen Regierungspartei NDP profitiert. Eine vom Interimskabinett kürzlich eingebrachte Gesetzesinitiative sollte die Armee im künftigen Ägypten der zivilen Kontrolle entziehen. Das Selmy-Dokument, benannt nach dem vom Militärrat eingesetzten Minister für demokratische Entwicklung, ließ den Volkszorn letztes Wochenende endgültig überkochen.

„All ihre Masken fallen nun, eine nach der anderen“, skandiert die Jugendbewegung 6. April in einem zum Wochenende veröffentlichten Memorandum. „Und die Maske Mubaraks, welcher wieder das Land regiert, wurde freigelegt.“ Wütend sind die Demonstranten nicht nur über den immer spürbarer werdenden Reformunwillen des Militärrats, sondern ebenso über dessen Pläne, die Präsidentschaftswahlen erst im Frühjahr 2013 abzuhalten. Noch im Februar dieses Jahres versprach der Militärrat, er wolle allenfalls sechs Monate regieren und dann seine Macht in zivile Hände abgeben.

Mit den anhaltenden Gewaltexzessen auf den Straßen Kairos, Alexandrias, Suez’ und anderer Städte Ägyptens stehen jedoch sämtliche Wahlen in Gefahr, abgesagt zu werden. Profitieren würde hiervon jedoch niemand.

Die Moslembrüder, denen Demos-kopen derzeit rund 40 Prozent der Stimmen prognostizieren, sehen ihre gute Ausgangsposition – sie gelten vielen als einziger Stabilitätsfaktor – gefährdet. Um ihre Mehrheiten nicht zu verspielen, appellieren sie nun an beide Seiten, Militärs wie Protestler, „gezügelt zu demonstrieren“, um „der Revolution nicht entgegenzuarbeiten.“

Die Salafisten wiederum, jene radikal-islamische Bewegung, die mit den Anschlägen von Luxor 1997, bei welchen 62 Menschen starben, traurige Berühmtheit erlangte, später jedoch der Gewalt abschwor und nun für eine halb-säkulare Demokratie sowie eine auf den altislamischen Tugenden Genügsamkeit, Fleiß und Glaube basierende Gesellschaft eintritt, könnten ihre mühsam erarbeiteten Sympathien unter den Ägyptern verspielen. Die Liberalen fürchten um sämtliche Früchte ihrer bisherigen Arbeit während der Revolution, deren ureigenster Träger sie sind. Selbst Tantawis Militärrat sähe lediglich den Erhalt des Status quo auf Kosten eines neuen landesweiten Bürgerkrieges.

Die Frage, welche sich allen nun stellt, ist nicht mehr jene, ob eine Wahl überhaupt stattfinden wird. Denn gewählt wird bereits. Auf dem Tahrir-Platz – zwischen Anarchie, Militärdiktatur sowie der Hoffnung auf eine künftig stabile Demokratie.

Foto: „Marsch der Millionen“ gegen die Militärmacht: Wut über den immer spürbarer werdenden Reformunwillen der Übergangsregierung