© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Niemand hat die Reißleine gezogen
Gorch Fock: Neue Erkenntnisse im Todesfall der Kadettin Jenny Böken
Felix Krautkrämer

Die „Gorch Fock“ kommt nicht zur Ruhe. Nach dem Skandal um den Unfalltod der Kadettin Sarah Seele (JF 30/11) im November 2010 könnte nun der Fall der im September 2008 unter bislang nicht geklärten Umständen über Bord gegangenen Offiziersanwärterin Jenny Böken für neuen Ärger sorgen. Für den Wehrbeauftragten des Bundestags, Hellmut Königshaus (FDP), ist der Vorgang keinesfalls abgeschlossen: „Es bestehen immer noch offene Fragen, die es zu klären gilt“, sagte er dem Spiegel.

Dazu zählt auch die Frage, ob der Tod der 19jährigen hätte verhindert werden können. Denn nach Informationen der JUNGEN FREIHEIT wecken die militär-medizinischen Untersuchungen erhebliche Zweifel, ob Jenny Böken überhaupt für den Dienst auf der „Gorch Fock“ geeignet war.

Alles beginnt am 11. Dezember 2007 mit ihrer Untersuchung in der Offizierbewerberprüfzentrale (OPZ) im Kölner Personalamt der Bundeswehr. Damals wurde der jungen Frau bescheinigt, „für die Offizierslaufbahn gesundheitlich geeignet“ zu sein, mit einem Tauglichkeitsgrad 2. Lediglich ihre Körpergröße von 1,77 Meter stand dem Tauglichkeitsgrad 1 entgegen. Daß Böken laut dem Attest ihres Gynäkologen unter einer verlängerten und verstärkten Regelblutung („dysfunktionelle Blutungsstörung“) litt, scheint für die untersuchende Medizinaloberrätin keine große Rolle gespielt zu haben. Zwei Tage vor ihrem Tod wird Böken beim Schiffsarzt der „Gorch Fock“ über starke Schmerzen im Unterleib klagen.

Im Untersuchungsbogen heißt es zudem, Jenny Böken habe bisher unter keinerlei Erkrankungen an Magen, Darm oder Bauchorganen gelitten, dabei wurde sie 2001 wegen eines Blinddarmdurchbruchs operiert. In späteren Untersuchungen findet sich dieser Hinweis in den Kölner Papieren dagegen nicht. Eine Kreislauffunktionsüberprüfung verläuft „unauffällig“. Lediglich bei der Untersuchung des autonomen Nervensystems, das Vitalfunktionen wie Atmung, Verdauung und Stoffwechsel regelt, wird bei ihr eine „leichte vegetative Labilität“ festgestellt, allerdings ohne Konsequenzen.

Ganz anders erscheint der Gesundheitszustand der Offiziersanwärterin im Sanitätsdienst ein halbes Jahr später bei ihrer truppenärztlichen Einstellungsuntersuchung in der Marine-Sanitätsstaffel in Mürwik. Ein Belastungs-EKG muß sie wegen Schwindelgefühlen abbrechen, eine Wiederholung „nach gutem Frühstück“ wird angeordnet. Es wird eine „orthostatische Dysregulation verstärkt bei Nüchternheit“ diagnostiziert. Wegen dieser Kreislaufstörung erhält sie die Gesundheitsziffer „III 46“.

Bei anderen Truppengattungen wie den Gebirgs- oder den Fallschirmjägern, die eine hohe körperliche Belastbarkeit sowie eine gewisse Höhentauglichkeit erfordern, wäre dies ein Ausschlußkriterium. Nicht aber bei der Marine, obwohl der für Offiziersanwärter verpflichtende Dienst auf der „Gorch Fock“, insbesondere in der Takelage, genau das verlangt.

Jenny Böken erhält bei der Untersuchung Anfang Juli 2008 wegen ihrer vegetativen Labilität noch eine weitere einschränkende Gesundheitsziffer: Eine „III 12“. Durch diese wäre sie bei korrekter Auslegung für die Ausbildung zum Sanitätsoffizier ungeeignet. Denn hinter der Bezeichnung verbirgt sich eine starke psychische oder körperliche Reaktionsform insbesondere in Streßsituationen. Doch auch dies bleibt ohne Konsequenz. Ungehindert kann sie ihre Grundausbildung beginnen – ohne großen Erfolg, wie ihre Beurteilung vom 14. August 2008 beweist, die der JF vorliegt.

Darin heißt es unter anderem: „Frau Matrose San OA Böken hat sehr starke Probleme, den an sie gestellten Anforderungen und Erwartungen im psychischen sowie physischen Bereich gerecht zu werden.“ Mehrfach sei sie im theoretischen und praktischen Unterricht eingeschlafen und habe beim „Physical Fitness Test“ das zweitschlechteste Ergebnis erreicht. Den Frühsport habe sie in den ersten drei Wochen beinahe täglich abgebrochen, ebenso einen Marsch über acht Kilometer. Dies stelle „nicht das gewünschte Bild der körperlichen Belastbarkeit eines Offiziersanwärters dar“. Doch die Soldatin gibt auch auf anderem Gebiet Anlaß zur Kritik. Von „ungebührlichem Verhalten gegenüber Vorgesetzten“ ist in der Beurteilung die Rede, von „Rumjammern“ und einer „teils gereizten und besserwisserischen Art“. Sie sei „zu keiner Zeit ein gut im Zug integriertes Mitglied“ gewesen, eine Eignung zum Offizier „nicht erkennbar“, lautet das Gesamturteil. Für jeden normalen Offiziersanwärter wäre nach einer solchen Beurteilung Schluß gewesen, nicht jedoch für Jenny Böken. Nur warum? Um eine politisch gewünschte Frauenquote zu erfüllen?

Ähnlich wie im Fall Sarah Seeles erweist es sich auch bei Jenny Böken als verhängnisvoll, daß niemand die Reißleine zieht. Zweifel an ihrer Einsatzfähigkeit sollen in einer Personalkonferenz in der OPZ zurückgewiesen worden sein. Zwei Wochen nach ihrer Beurteilung beginnt sie am 28. August 2008 ihre Ausbildungsfahrt auf der „Gorch Fock“. Sechs Tage darauf, am 3. September gegen 23.45 Uhr, muß das Schiff ein „Mann über Bord“-Manöver einleiten. Ohne Erfolg. Zwölf Tage später entdeckt das Fischereiforschungsschiff „Walther Herwig III“ 65 Seemeilen nordwestlich von Helgoland die Leiche von Jenny Böken.