© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Was von der Wurst übrig ist
Marcus Schmidt

Es geht um die Wurst. Genauer gesagt um das, was davon noch übriggeblieben ist. Und das ist nach Ansicht des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichtes, Andreas Voßkuhle, nicht mehr viel. Die Wurst, das sind die nationalen Kompetenzen, die im Zuge des europäischen Integrationsprozesses Scheibe um Scheibe „abgeschnitten“, also nach Brüssel abgegeben wurden, verdeutlichte Voßkuhle in der vergangenen Woche bei einer Diskussion mit Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) in Berlin.

Die im freundlichen Ton, aber in der entscheidenden Frage kontrovers geführte Diskussion stand zwar unter dem unverfänglichen Motto „Verfassungsgericht und Gesetzgeber“. Doch vor dem Hintergrund von Planspielen in der Bundesregierung für die Vereinigten Staaten von Europa gewann die Veranstaltung eine ganz besondere Brisanz.

Langsam werde es nähmlich kritisch, mahnte der oberste Verfassungsrichter und ließ durchblicken, daß Karlsruhe so gut wie keinen Spielraum mehr dafür sehe, weitere Souveränitätsrechte abzugeben, ohne die dabei vom Grundgesetz gesetzten Grenzen zu verletzen. Voßkuhle empfahl den Politikern daher darüber nachzudenken, ob die Mitgliedsländer der Europäischen Union nicht lieber ganz offiziell den Weg in einen Bundesstaat beschreiten wollen. Dies sei nach dem Grundgesetz möglich, erfordere aber die Mitwirkung des Volkes, etwa über Artikel 146.

Lammert, dessen Rhetorik an diesem Tag nicht zündete, wollte davon nichts wissen und verwies entsprechende Überlegungen in die ferne Zukunft. Der Wunsch nach dem Abschied vom Nationalstaat sei in den anderen EU-Ländern „um Längen“ geringer ausgeprägt als in Deutschland. Daher bestehe derzeit nicht die Notwendigkeit, über einen Bundesstaat nachzudenken. Als Zeithorizont für entsprechende Überlegungen nahm Lammert stattdessen das Ende der übernächsten Legislaturperiode in den Blick.

Voßkuhle bestritt indes nicht, daß die Neigung zu einem engeren Zusammenschluß in Europa äußerst gering ausgeprägt ist. Ihn treibt etwas anderes um: die schleichende Entwicklung hin zu einem Bundesstaat, die das Gericht seit Jahren beobachtet und der es im sogenannten Lissabon-Urteil mit der Stärkung der Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat versucht hatte entgegenzuwirken. Voßkuhle warnte davor, daß hier ein Prozeß in Gang gesetzt wird, der unerkannt bleibt und daher nicht zu kontrollieren ist. „Wir sollten nicht mehr so weitermachen wie bisher“, mahnte er. Man konnte indes den Eindruck gewinnen, daß Lammert und damit die Regierungsparteien genau dies vorhaben: „Weitermachen“, bis die Vereinigten Staaten von Europa Realität sind.

Eindringlich warnte Voßkuhle das Parlament davor, hierfür das Grundgesetz einfach mit einer Zweidrittelmehrheit zu ändern, um die Beteiligung des Volkes zu umgehen. Er ließ keinen Zweifel daran, daß das Gericht dann eingreifen würde. „Eine Entscheidung, die wir nicht gerne treffen würden“, sagte er und warnte in diesem Zusammenhang vor „verfassungswidrigem Verfassungsrecht“.