© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  48/11 / 25. November 2011

In der Hand des Volkes
Mehr Europa: Der Staatsrechtler Dietrich Murswiek über die Grenzen der Verfassung
Christian Vollradt

Angesichts der Währungs- und Schuldenkrise werden die Rufe – so zum Beispiel von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) – nach „mehr Europa“ immer lauter. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle (siehe Seite 7), warnte jedoch jüngst: „Wenn wir einen europäischen Bundesstaat schaffen, dann brauchen wir eine neue Verfassung und dann muß das Volk beteiligt werden.“ Der Freiburger Verfassungsrechtler Dietrich Murswiek teilt gegenüber der JUNGEN FREIHEIT diese Einschätzung.

Herr Professor Murswiek, kein Politiker spricht zur Zeit offen von einem kommenden europäischen Bundesstaat. Wird dieser aber nicht längst mittels einer „Salamitaktik“ scheibchenweise auf den Weg gebracht?

Murswiek: Dies kann man so sehen. Bereits die Einführung der Europäischen Währungsunion war ja bereits so gedacht, daß die politische Union – die das Grundgesetz nicht zuläßt – dann die notwendige Folge sein würde; die Macht der geschaffenen ökonomischen Fakten sollte das Abschneiden der nächsten ganz dicken Salamischeibe später erzwingen. Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil eine solche Zwangsläufigkeit verneint. Jetzt versuchen einige Politiker, die Vereinigten Staaten von Europa mit der Brechstange der Finanzkrise, die angeblich alternativlos gar nicht anders als durch eine Fiskalunion bewältigt werden könne, durchzusetzen, und manche fordern ganz offen einen europäischen Bundesstaat. Im Lissabon-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht der Salamitaktik allerdings ein Ende gesetzt und deutlich gemacht, daß nicht mehr viele Scheiben von der nationalen Souveränität abgeschnitten werden dürfen.

Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, hat jüngst festgestellt, daß die Grenze erreicht ist, bis zu der nationalstaatliche Kompetenzen auf der Basis des geltenden Grundgesetzes an die Europäische Union (EU) abgegeben werden können. Wie lautet Ihre Einschätzung dazu?

Murswiek: Das ist richtig. Erheblichen Spielraum für weitere Kompetenzübertragungen gibt es nur dann, wenn diese durch Rückübertragung von Kompetenzen von der EU auf die Mitgliedstaaten kompensiert werden, etwa nach dem Motto, Europa stärker, aber zugleich schlanker zu machen. Die EU-Bürokratie will aber nichts hergeben, was sie einmal erhalten hat. Zusätzlich zu den vorhandenen Kompetenzen der EU auch noch einen wesentlichen Teil der Haushaltshoheit zu übertragen, wie dies jetzt im Zusammenhang mit der Euro-Krise gefordert wird, überschreitet eindeutig die vom Bundesverfassungsgericht im Lissabon-Urteil gezogene Grenze für die Übertragung von Hoheitsrechten.

Der Verfassungsgerichtspräsident warnte davor, eine „Öffnung“ des Grundgesetzes hin zu einem Bundesstaat Europa lediglich mittels einer Zweidrittelmehrheit des Bundestages zu beschließen. Dies müsse unter Mitwirkung des deutschen Volkes geschehen. Halten Sie es für realistisch, daß in nächster Zeit dieser Weg über eine Volksabstimmung beschritten wird?

Murswiek: Im Augenblick scheint mir das unrealistisch, aber das könnte sich bei Verschärfung der Euro-Krise schnell ändern. Verfassungsrechtlich ist es richtig, daß die Bundesregierung weder durch einfaches Gesetz noch durch Verfassungsänderung ermächtigt werden dürfte, einem europäischen Bundesstaat beizutreten. Dies wäre nur auf der Basis einer verfassunggebenden Entscheidung des Volkes möglich.

Wäre die Wahl eines Verfassungskonvents bzw. einer Nationalversammlung eine denkbare Alternative zur Volksabstimmung?

Murswiek: Wenn nicht die Ausarbeitung einer inhaltlich ganz neuen Verfassung zur Entscheidung steht, sondern allein die Ermächtigung zum Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat, wäre die Wahl einer verfassunggebenden Versammlung lediglich ein Mittel, dem Volk die Entscheidung aus der Hand zu nehmen und sie den Parteien zu überlassen. Die verfassunggebende Gewalt steht nach dem Grundgesetz aber dem Volk zu und nicht den Parteien.

Welche „Machtmittel“ stünden dem Verfassungsgericht zur Verfügung, um eine Beteiligung des Volkes an dieser Verfassungsänderung zu erzwingen, sollte der Bundestag doch den Weg der Zweidrittelmehrheit beschreiten?

Murswiek: Wie gesagt: Es geht nicht um eine bloße Verfassungsänderung, sondern um einen verfassunggebenden Akt. Würden Bundestag und Bundesrat im Wege der Verfassungsänderung mit Zweidrittelmehrheit die Öffnung zu einem europäischen Bundesstaat beschließen, könnte und müßte das Bundesverfassungsgericht dieses verfassungsändernde Gesetz für nichtig erklären.

 

Prof. Dr. Dietrich Murswiek forscht und lehrt am Institut für Öffentliches Recht der Universität Freiburg. Er war Verfasser und Prozeßbevollmächtigter der Verfassungsklage des CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler gegen den sogenannten EU-Rettungsschirm. Bereits im Jahr 2009 hatte er in Karlsruhe maßgebliche Änderungen für das Begleitgesetz des Lissabon-Vertrages erwirkt. www.dietrich-murswiek.de

 

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