© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

Energiepolitik im Blindflug
Der Flaschenhals Stromnetz bremst die versprochene Energiewende aus / Windkraft ohne Abnehmer
Enrico König

Kaum hatte Angela Merkel nach der Fukushima-Katastrophe die „Energiewende“, den Atomausstieg bis 2021, ausgerufen, übertrumpften sich Sonnen- und Windstrom-Lobbyisten mit Zusicherungen, die Vollversorgung mit alternativen Energien bis 2030 gewährleisten zu können. Verfügt doch Deutschland nach einer Studie des Bundesverbandes Windenergie (BWE) über acht Prozent Landfläche, die uneingeschränkt für Windkraft geeignet sind. Nutze man nur zwei Prozent davon, erbrächten die dort installierten Anlagen 198 Gigawatt Leistung, was jährlich 390 Terawattstunden Strom bedeute. Das entspräche etwa 65 Prozent des deutschen Strombedarfs. Die Atomkraftwerke, die 2010 nur 140 Terrawattstunden produzierten, wären damit überflüssig – theoretisch.

Doch laut einer Studie des Beratungsunternehmens Ecofys im Auftrag des BWE sind allein 2010 bis zu 150 Gigawattstunden Windstrom wegen Netz-engpässen verlorengegangen. Auch die in den vergangenen Wochen vor allem in Norddeutschland zutage getretenen Probleme der Abnahme von Windstrom weisen darauf hin, daß vorerst weniger das nach dem AKW-Abschalten erreichbare Energiepotential zur Diskussion steht, sondern dessen Verteilung.

Das bestehende Stromnetz, so der Windkraft-Experte Jörg-Rainer Zimmermann (Internationale Politik/IP 7-8/11), sei ein „Flaschenhals“. Für die versprochene Vollversorgung durch erneuerbare Energien müßten in Europa weit über 10.000 Kilometer neue Leitungen gebaut werden, solle die Energiewende nicht ausgebremst werden. Der Netzentwicklungsplan der EU veranschlagt bis 2020 gar einen Bedarf von 35.000 Kilometern neuer und 7.000 Kilometern zu optimierender Höchstspannungstrassen. Nur mit solchen Netzkapazitäten, so zitiert Zimmermann eine Studie Jürgen Schmids vom Kasseler Fraunhofer-Institut IWES, könnte man die Windkraftparks vor Nordeuropas Küsten mit den Pumpspeicherwerken in den Alpen sowie den Solar- und Windkraftanlagen Südeuropas einschließlich vielleicht des nordafrikanischen „Wüstenstroms“ in eine zukunftsfähige Energieinfrastruktur integrieren.

Zudem sei nicht zu übersehen, daß europaweit Energiekonzerne weiterhin nicht in teure Trassen, sondern renditeträchtigere Braun- und Steinkohlekraftwerke investieren. In den Niederlanden soll 2019 sogar ein neues AKW Strom liefern. Das sind zusätzliche Kapazitäten, die es verbieten, die ohnehin gigantische Aufgabe des Netzausbaues auf die Integration von Sonnen- und Windenergie zu reduzieren. Schon bis 2014 soll der Aufbau des EU-Strombinnenmarktes Realität sein. Die verbesserte Verknüpfung der nationalen Netze erfordert nach Aussage von EU-Energiekommissar Günther Oettinger unbezifferbare „Milliarden“.

Allein die 65 Kilometer lange Gleichstromübertragungstrasse an der spanisch-französischen Grenze – ein EU-Pilotunternehmen – kostet 700 Millionen Euro. Bezahlen wird dies am Ende der Verbraucher, den Oettinger schon auf noch höhere Strompreise einstimmt – zunächst 90 Euro mehr pro Jahr für einen Vier-Personen-Haushalt. Zimmermann deutet mit solchen megalomanen Planungen und Prognosen die epochale Dimension der energiepolitischen Herausforderungen trotzdem kaum an. Diese in kräftigsten Farben auszumalen übernehmen im selben IP-Heft Oliver Gnad und Marcel Viëtor.

Passend zum modischen Jargon der Euro-Krise möchten auch die beiden Berliner Politikwissenschaftler nicht kleckern, sondern errechnen aus den Berliner und Brüsseler Kalkulationen einen Investitionsbedarf im Energiebereich, der „in den nächsten zehn Jahren eine Billion Euro“ fordere. Bis 2050 müsse Deutschland jährlich 20 Milliarden Euro dem Energiesektor zuwenden. Unvorstellbare Summen, die beide Autoren auch mit dem gegenwärtig bescheidenen Zustand der Netzstrukturen begründen.

Der immense Nachholbedarf springt sofort ins Auge, wenn sie die von der Deutschen Energie-Agentur (Dena) erhobene Forderung nach 3.600 Kilometern Neutrassen für das Bundesgebiet mit den kümmerlichen 90 Kilometern kontrastieren, die seit 2006 entstanden sind. Um hier Tempo zu machen, seien verkürzte Raumordnungs- und Planfeststellungsverfahren unumgänglich.

Es sei nicht hinnehmbar, daß eine ökologische Energiepolitik durch ökologisch motivierten Widerstand gegen den Trassenbau derart behindert werde, daß derzeit zehn Jahre benötigt würden, bevor „hierzulande neue Hochspannungsleitungen stehen“. Obwohl ein Netzausbaubeschleunigungsgesetz in Arbeit sei, trifft auf nationale wie auf EU-Bemühungen darum das Urteil von Zimmermanns Kronzeuge Schmid zu: „Energiepolitik im Blindflug“.

Angesichts der optimistischen Vorhersagen über das in Deutschland verfügbare, beinahe Autarkie verheißende Potential der Wind- und Sonnenenergie muten die Szenarien über dessen Integration in den mit Billionen aufzurüstenden EU-Stromverbund jedoch etwas fragwürdig an. Aber zumindest für Gnad und Viëtor soll Energiepolitik ja auch kein nationaler Selbstzweck sein. Sie propagieren den europäischen Kraftakt des Netzausbaues jenseits des ökonomischen und technologischen Aufwands als politische Utopie und artikulieren damit eventuell heimliche Hoffnungen Berliner Entscheidungsträger.

Wie einst Kohle und Stahl der Integrationskern für die EWG der Nachkriegszeit waren, gefolgt vom krisengeschüttelten „Integrationsmotor“ Euro, so müßte heute der „grüne Energiesektor als Instrument zur Gestaltung gegenseitiger Abhängigkeiten“ dienen. Dabei schlagen die beiden Jungstrategen den Bogen gleich bis in die Sahara. Denn die nordafrikanischen Länder jenseits des Mittelmeeres sollen in diesem Gehäuse der Interdependenzen, im „Grand Design“ einer „Mediterranen Solarunion“, ihren Platz finden. Treibe man das bislang nur halbherzig verfolgte Desertec-Projekt (JF 34/10) voran, riesige Solarstromparks in den Wüstenregionen Nordafrikas zu etablieren, lasse sich nicht nur die steigende Energienachfrage in dieser Region befriedigen. Auch die europäische Energiewende werde beschleunigt und die so hoffnungsvoll beäugten Staaten der „Arabellion“ wären energiepolitisch mit der EU verflochten.

Dieser Prozeß münde nicht zwangsläufig in einer EU-Erweiterung, sondern, wie es wohl mit Blick auf die Türkei heißt, in „Nachbarschaftspolitik“, die wirtschaftlichen Wohlstand generiere, folglich starken Migrationsdruck mindere und endlich eine „gemeinsame europäische Vision“ entfalte, die die „Euro-Vision“ ablöse, die mit ihren finanziellen Transferleistungen nichts weiter sei als „Politikersatz“.

Ecofys-Studie „Abschätzung der Bedeutung des Einspeisemanagements nach EEG 2009“:

 www.wind-energie.de

Foto: Abgeknickte Windradflügel: Die ökologische EU-Energiepolitik wird durch ökologisch motivierten lokalen Widerstand ausgebremst

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