© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

Lockerungsübungen
Schaden für das Ansehen
Karl Heinzen

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, daß die Anwendung einer Fünf-Prozent-Sperrklausel bei den Wahlen zum Europäischen Parlament grundgesetzwidrig ist. Befürchtungen, es könnte nun plötzlich auf die Idee gekommen sein, ein puristisches und damit lebensfremdes Demokratieverständnis zur Richtschnur seiner Rechtsprechung zu machen, sind allerdings unbegründet. Die Karlsruher Richter wollten vielmehr die Gelegenheit nutzen, ihre Verachtung gegenüber der Europäischen Union, für die sie unterdessen weit über unsere Landesgrenzen hinaus berühmt sind, aufs neue zum Ausdruck zu bringen.

Unverändert geht das höchste deutsche Gericht davon aus, daß der Wille der Bürger in den von ihnen gewählten Parlamenten nicht ungefiltert abgebildet werden muß, sofern dies zur Sicherstellung der Funktionstüchtigkeit des Staates als zweckmäßig erscheint. Sperrklauseln, die einer Zersplitterung der Parteienlandschaft vorbeugen, sind folglich vernünftig und legitim, wenn man die Bildung stabiler Mehrheiten im Parlament zur Unterstützung einer aus ihm hervorgehenden Regierung sowie für die Gesetzgebung erleichtern möchte.

Derartiges ist jedoch auf europäischer Ebene gar nicht vorgesehen. Das EU-Parlament wählt keine Regierung und stellt auch keine Legislative dar. In der Gesetzgebung ist seine Rolle im Brüsseler Institutionengefüge eine eher marginale. Da schon heute aus den 27 Mitgliedstaaten 162 Parteien im Europäischen Parlament vertreten sind, würden ein paar kleine mehr aus Deutschland ihm sicherlich kaum zur Last fallen.

Das Bundesverfassungsgericht hat es jedoch versäumt, sich darüber Gedanken zu machen, welchen Schaden das deutsche Ansehen nähme, wenn Splitterparteien plötzlich Abgeordnete nach Eu-ropa schicken könnten. Ein Blick auf jene „Sonstigen“, denen es in jüngsten Wahlen gelang, Ergebnisse von mehr als einem Prozent einzufahren, läßt Schlimmes befürchten. Die Fünf-Prozent-Hürde hat eine parlamentarische Verankerung von Querulanten, Phantasten und Sektierern in Grenzen gehalten, obwohl ihre kruden Positionen von weit mehr Deutschen geteilt werden, als die Wahlergebnisse ausweisen. Wer sie preisgibt, schadet nicht nur dem Parlamentarismus, sondern setzt auch den Bürger der Versuchung aus, sich unmündig zu verhalten und keine vernünftige Wahl zu treffen.

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