© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  47/11 / 18. November 2011

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Fatalismus vor den Barrikaden
Matthias Bäkermann

An Symbolkraft mangelt es kaum: Der Blick auf die Quadriga in Steinwurfweite, fünf Stockwerke thronend über dem Mauerstreifen vor dem Brandenburger Tor, das alles im dunstigen Abendnebel eines 9. November – der rasch auf dem Fensterbrett drapierten Bismarckbüste hätte es gar nicht mehr bedurft, um die Buchvorstellung der konservativen Unionskritiker Arnulf Baring, Josef Kraus, Mechthild Löhr und Jörg Schönbohm stimmungshaft zu befrachten.

„Obwohl sie niemand darum gebeten hat“, so der Untertitel, haben diese vier eine Streitschrift verfaßt, um der Union in verdient harter Weise die Leviten zu lesen. In Gesprächsform spielen sich die vier – außer Baring alle CDU-Mitglieder – die Bälle zu, indem sie „den traurigen Niedergang der Union“ nicht nur personell, sondern auch programmatisch beklagen. Da bei diesem Salongespräch der Publizist Alexander Gauland ebenso wie Focus-Redakteur Alexander Kissler, der zu dem Büchlein aus dem Landt Verlag das Vorwort beigesteuert hat, beinahe Brüder im Geiste der Buchautoren sind, scheitert jeder Disput an der Offensichtlichkeit der These. Der jüngste Umfaller in Sachen Mindestlohn ist als verspäteter Beleg für das Lamento über die Zeitgeistsurferei der Merkeltruppe deshalb eigentlich gar nicht mehr nötig.

Fünf Tage vor dem Bundesparteitag kann das übersichtliche Auditorium, ein doppelter Stuhlhalbkreis handverlesener Hauptstadtjournalisten, lediglich der Fragestellung lauschen, ob Angela Merkel die Ursache oder das Symptom des Problems sei. Vielleicht habe unsere „Post-Adoleszenten-Gesellschaft“ genau die Kanzlerin, die sie verdient. Jörg Schönbohm, ausgemusterter Lordsiegelbewahrer für das verscherbelte konservative Tafelsilber der Union, meint in der verlorenen Bundestagswahl 2002 als Reaktion auf das Leipziger Programm Merkels „verlorenenen Mut zum Festlegen“ zu ergründen. Hoffnung auf eine schnelle Wende habe er nicht. Merkels System werde vielleicht sogar noch über das Jahr 2013 halten, wenn es „für eine ‘Große Koalition’ reichen sollte“. Als dann noch ein Journalist quengelig nachfragt, was er – Jörg Schönbohm persönlich – gegen diesen Prozeß zu tun gedenke, verdeutlicht der ratlose Blick des Politpensionärs, daß sich seine Energie zum Widerstand mit der frechen Streitschrift wohl verbraucht hat.

Einziger Wutbürger ist der als Quotenkonservative bei Maischberger & Co. gern geladene Arnulf Baring. Die „Stickigkeit des Diskurses in Politik und Medien“ bringt den Emeritus wahrhaft in Rage: „Konformismus tötet schließlich die Demokratie!“ Wie schon 2002, als er mit seinem FAZ-Aufsatz die „Bürger auf die Barrikaden“ rief, sieht man dem zorngerötet im Clubsessel vorgerückten Baring auch heute seine Erwartung an, daß es doch nun bald mal losgehen muß. Dennoch wird auch heute ein Aufstand ausbleiben. Diesen 9. November spricht niemand einen Schabowski-Halbsatz mit „sofort“ und „unverzüglich“. Und an Revolution und Barrikaden erinnert allein der „Platz des 18. März“ vor dem Brandenburger Tor, dreißig Meter tiefer, draußen, in der Kälte.

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