© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

Brüsseler Reißbrett-Visionen
Deutschland als meeresökologischer Musterknabe / EU will „Guten Umweltzustand“ bis 2020 verwirklichen
Justin Bäcker

Ihre tief in die Geschicke der Mitgliedsstaaten einschneidende Politik gießt die EU-Kommission bekanntlich in unscheinbar wirkende „Richtlinien“. Derart nüchtern verpackt, landete auch die Europäische Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL 2008/56/EG) in Berliner Ministerbüros. Was sich äußerlich nicht von den berüchtigten Erzeugnissen Brüsseler Regelungsfurors der Marke „Treckersitze“ unterscheidet, enthält gleichwohl nicht weniger als die „Umweltsäule“ der europäischen Meeresstrategie bis 2020.

Wie immer bei ihren langfristigen Programmen und Projekten, so steckt auch in diesen meeresökologischen Vorgaben viel plansozialistischer Utopismus. Soll doch in den nächsten neun Jahren nicht nur die biologische Vielfalt in einem marinen Großraum geschützt oder restauriert werden, der sich von den Azoren bis zum Finnischen Meerbusen erstreckt. Proklamiert wird sehr viel weitergehend das Endziel „Guter Umweltzustand“. Was sich unter dieser flauschigen Orwell-Semantik tarnt, zeigt eigentümlich konservative Konturen. Suggeriert wird die Erreichbarkeit eines idealen Endzustands in der ewig veränderlichen Natur.

Im Jahre 2020 jedenfall soll der Fluß der Dinge zum „guten“ Stillstand kommen. Die „kommerziell befischten Fisch- und Schalentierbestände“ haben sich dann innerhalb „sicherer biologischer Grenzen“ zu befinden. Die von Menschen verursachte Eutrophierung „ist“ auf ein Minimum reduziert, so daß etwa schädliche Algenblüten und Sauerstoffmangel in tieferen Wasserschichten der Vergangenheit angehören.

Die ökologische Gesundung solle dann ein so hohes Niveau erreicht haben, daß aus Schadstoffeinträgen keine Verschmutzung resultiert, daß dauerhafte Veränderungen hydrographischer Bedingungen für die Meeresökosysteme folgenlos bleiben und, mit Blick auf die zahllosen geplanten Windparks in Küstennähe, selbst die „Einleitung von Energie, einschließlich Unterwasserlärm“ sich in einem Rahmen hält, der sich „nicht nachteilig auf die Meeresumwelt auswirkt“. Deutsche Meeresökologen halten die ehrgeizigen MSRL-Ziele zum Schutz der marinen Biodiversität zwar für erreichbar (Natur und Landschaft, Heft 9/10/11).

Doch sind die Brüsseler Reißbrett-Visionen mit erheblichen Mängeln und Risiken behaftet. Zu wenig werde beachtet, daß der ökologischen Therapie eine wissenschaftlich fundierte Diagnose vorausgehen muß, die wegen großer Kenntnislücken derzeit nicht zur Verfügung steht. Dabei bleibt von dieser ökologischen Kritik noch unerörtert, was seit Jahrzehnten ein Dauerbrenner biologischer Kontroversen ist: die Regulierbarkeit von Naturprozessen durch den Menschen.

Der Botaniker und Umweltethiker Martin Gorke (Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald) hat unlängst wieder daran erinnert, daß der Anspruch auf „Vorhersehbarkeit und Steuerbarkeit von Ökosystemen insbesondere aufgrund der hohen Komplexität und Nichtlinearität der Prozesse prinzipiell nur sehr begrenzt einlösbar ist“ (Seevögel, Heft 2/11). Im übrigen lassen die EU-Richtlinien eine umfangreiche Liste von Ausnahmen zu, die eine Abweichung von fachlich notwendigen Maßnahmen erlauben.

Die größte Schwäche liegt darin, daß Ökologie und Ökonomie nicht aufeinander abgestimmt sind. Konzeptionelle Kohärenz hätte erfordert, den Meeresschutz mit den Interessen der gemeinsamen Fischerei- und Agrarpolitik der EU zu harmonisieren. Stattdessen enthielten die MSRL-Richtlinien Regelungslücken, die es ermöglichen, „ökonomisch orientierten Nutzungsinteressen Vorrang vor Biodiversitätsschutz“ einzuräumen. Was in Brüssel nachgebessert werden müsse, sei daher die „vollständige Integration“ derjenigen Politikfelder in die meeresökologische Gesamtstrategie, von denen negative Einflüsse auf den Zustand der Meere und der marinen Biodiversität ausgingen.

Ungeachtet solcher vielfach unausgegorenen Brüsseler Pläne hat sich Deutschland seit langem als meeresökologischer Musterknabe in der EU etabliert. Ältere Meeresschutzabkommen wie die Oslo-Paris- und die Helsinki-Konvention sind mit deutscher Gründlichkeit umgesetzt worden. Bezüglich der Gesamtfläche der geschützten Areale in der Ostsee und der räumlichen Verteilung der Schutzgebiete nimmt Deutschland eine regelrechte „Sonderrolle“ ein, wie Henning von Nordheim (Bundesamt für Naturschutz/BfN) formuliert.

Mehr als die Hälfte der deutschen AusschließlichenWirtschaftszone in der Ostsee ist Schutzzone, während der Anteil anderer Anliegerstaaten bei kaum 30 Prozent liegt. Für die meisten Vertragsstaaten der Meeresschutzkonvention bestehe hier deshalb ein „deutlicher Nachholbedarf“. Wie in der Ostsee habe Deutschland auch in der wirtschaftlich wichtigeren Nordsee ökologische „Standards gesetzt“. Drei Viertel der Küstengewässer und ein Drittel der Ausschließlichen Wirtschaftszone sind als marine Schutzgebiete deklariert.

Daß Deutschland durch die Energiewende der Bundesregierung, die auf eine forcierte Nutzung von Windenergie im Offshore-Bereich setzt, in der ökologischen Liga seinen Spitzenplatz verlieren könnte, ist kaum zu befürchten. Diese Gewißheit läßt sich einer Zwischenbilanz über „Zehn Jahre Entwicklung von Offshore-Windparks in der deutschen Nordsee“ entnehmen (Naturschutz und Landschaftsplanung, 10/11). Im Vordergrund steht dabei die Bewertung von möglichen Auswirkungen auf Vögel und Schweinswale.

Die seien bei weitem nicht so dramatisch negativ ausgefallen wie ursprünglich befürchtet. Zwar müsse man Vertreibungen von Schweinswalen während der Rammarbeiten registrieren, doch zum einen kehrten die Tiere danach in ihre Habitate zurück, zum anderen ließen sich Störungen in Zukunft noch besser durch Schallminderungsmaßnahmen verhindern. Und für die Meeresvögel gingen durch die kommende Expansion der Windparks zwar Rastflächen verloren, aber es gebe Ausweichmöglichkeiten. Zudem sei nur ein geringer Teil der Zugvögel durch Windmasten und Rotoren gefährdet. Auch hier könnte die Kollisionsgefahr durch Frühwarnsysteme weiter herabgesetzt werden.

Informationen zur Europäischen Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (MSRL 2008/56/EG): www.meeresschutz.info

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