© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

Demokratie oder Scharia
Was kommt nach dem „arabischen Frühling“? Gudrun Krämer hofft auf eine demokratietaugliche Auslegung des Islams
Heinz Frölich

Der „arabische Frühling“ hat „den Westen“ irritiert. Entstehen in Tunesien, Ägypten und Libyen demokratische, freiheitliche Strukturen? Harmonieren islamische Normen und liberale Bürgerrechte dauerhaft? Da niemand weiß, wohin die politische Reise geht, fehlt noch der zeitliche Abstand, um ausgewogen zu urteilen. Zumindest der große Wahlsieg der islamistischen Kräfte in Tunesien deutet in eine für viele bedenkliche Richtung

Keine aktuellen Ereignisse erörtert die Islamwissenschaftlerin Gudrun Krämer; sie will untersuchen, ob ein „demokratischer Islam“ zu realisieren sei. Ihr Buch enthält zahlreiche Widersprüche und versteckte Hintertüren. Nicht der Islam, behauptet Krämer, habe die Muslime „in ihrem Freiheitsstreben behindert, sondern repressive Regime“.

Politik und Religion voneinander zu trennen, entspricht der westlichen Denkweise. Dem Muslim gilt Gottes im Koran festgelegtes Wort als oberste Vorschrift, wie selbst die Autorin anerkennt. Alle weltlich-ethischen Fragen regelt die Scharia, ein Rechtssystem, das durchzusetzen jedem islamischen Staat obliegt, der keine anderen Prinzipien gelten läßt. „Islam“ bedeutet Gehorsam und verpflichte zu richtigem Handeln. Weil Muslime Gott für unverstehbar halten, gibt es weder eine islamische Kirche noch eine „wissenschaftliche“ Theologie. Folglich bleiben die Spielräume der Interpretation des Korans gering.

Daß der Islam geistliche und weltliche Gewalt verklammere, beschönigt Krämer, obwohl auch sie feststellt, daß die Scharia demokratische und individuelle Selbstbestimmung ablehne. Weltliche Obrigkeiten, unterstützt von Religions- und Rechtsgelehrten, bestimmten das Dasein in den allermeisten muslimischen Ländern, die Krämer als „theozentrische Nomokratien“ einstuft, denen Parlamente fremd waren und die „bürokratisch-patrimoniale Ordnungen“ errichteten. Gegenwärtig bevorzugten viele Araber eine „konstitutionelle Präsidialrepublik, mit der Scharia als Grundlage von Recht und Moral“. Allein innerhalb dieses engen Rahmens existierten Mitbestimmung und Bürgerfreiheit.  

Krämer demontiert immer wieder die Stringenz der eigenen Analyse. Der in sich differenzierte Islam „lerne“ und habe seit der kolonialen Epoche westliche Normen adaptiert. Nur fanatische „Islamisten“ glaubten, daß dort, wo Muslime leben, aber die Staatsgewalt nicht in ihrer Hand liege, der Kriegszustand herrsche. Das Gros der Anhänger des Propheten interpretiere die Scharia hingegen auf „vernünftige“ Weise. Einwänden könnte man jedoch, daß auch die liberalste Variante islamischer Regierungsformen meist nicht mehr als eine gemäßigte Tyrannei ist. Selbst in der halbwegs laizistischen Türkei erweise sich Erdogan als ein osmanischer Putin, der eine löchrige demokratische Fassade präsentiert. Die Anwendung der Scharia setzt den islamischen Staat voraus; nichtmuslimischen Religionen fehlt in der Türkei daher die Gleichberechtigung. Eine echte Demokratie kann der Islam nicht gewähren, ohne sich selbst zu verleugnen. Unlängst hat der Vorsitzende des libyschen Rebellenrates erklärt, daß die Scharia den Kern der neuen Verfassung Libyens bilden müsse.

Gudrun Krämer: Demokratie im Islam. Der Kampf für Toleranz und Freiheit in der arabischen Welt. Verlag C.H. Beck, München 2011, 220 Seiten, 14,95 Euro

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