© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

Die vergessenen Toten der Schwefelinsel
Japanische Archäologen graben derzeit nach verschollenen Opfern der mörderischen Schlacht von Iwojima von 1945
Marc Zöllner

Das Galapagos des Ostens, wie die Japaner liebevoll ihr Ogasawara zu nennen pflegen, liegt etwa eintausend Kilometer südlich von Tokio. Lange, unberührte Sandstrände, Palmenhaine, deren Wedel sich im Abendrot der sanften tropischen Brise neigen, zahllose Schwärme von Sperlingen und Veilchentauben, das Meer reich an Fischen, an Delphinen, an Schildkröten. Ogasawara, bedeutet auf japanisch die Ebenen der Bambushütten. Diese unschuldige Idylle, fernab der Hauptinseln ruhend, ist lediglich einmal die Woche per Schiff zu erreichen. Nicht grundlos wurde das kleine pazifische Inselreich diesen Sommer von der Unesco zum Weltnaturerbe ernannt. Doch inmitten dieser von Vulkanen geprägten Oase ruht, tief vergraben in Massengräbern, in Höhlen und Kavernen, Japans lang verdrängtes Trauma des verlorenen Krieges um die Hegemonie Ostasiens, um die nie aufgearbeitete Geschichte des einst nach Großmacht strebenden Kaiserreiches. Das Trauma selbst trug einen Namen: Iwojima – Schwefelinsel.

Nach dem Krieg viele Jahrzehnte lang in absichtliche Vergessenheit gedrängt, waren es gerade die einstigen Gegner von damals, welche die mediale Erinnerung wieder wachriefen. Clint Eastwoods Filme „Letters from Iwo Jima“ und „Flags of our Fathers“, basierend auf dem gleichnamigen Bestseller von James Bradley, lockten 2006 auch in Japan unzählige Fans in die Kinos. Mit direkten politischen Folgen: Bereits ein Jahr später erhielt die Insel offiziell ihren Vorkriegsnamen Ioto zurück. Die Debatte um das Gedenken an den Krieg und sein Ende ging jedoch weiter.

Die Insel Iwojima entspricht in ihrer Fläche etwa dem deutschen Hiddensee und ist beim gemütlichen Strandspaziergang an einem Tag gut zu umrunden. Von Februar bis März 1945 jedoch tobte auf ihr eine der mörderischsten Schlachten des gesamten Pazifikkrieges. Über 22.000 japanische Soldaten verschanzten sich um die Hänge des Mount Suribachi, in dessen Felsmassiv sie mehr als 18 Kilometer an Tunneln und Bunker gruben, um der US-amerikanischen Übermacht von 61.000 Marineinfanteristen zu trotzen. Nach 36 Tagen Kampf ergaben sich schließlich die letzten überlebenden Japaner, ganze 216 an der Zahl, der Rest fiel im Kampf, verhungerte eingemauert in den Felsstellungen oder suchte seinen Ausweg im ehrenhaften Freitod. Die US-Marines hatten zu dieser Zeit 29.000 Verluste zu beklagen.

Noch immer werden auf Iwojima über 13.000 japanische und etwa 200 amerikanische Soldaten in Massengräbern vermutet. Um ihren Gefallenen eine würdige Bestattung zu sichern, entschied sich die japanische Regierung nun, ab November 2011 ein 40köpfiges Team aus Archäologen und Freiwilligen dauerhaft zur Insel zu entsenden. Ausgestattet mit einem jährlichen Budget von umgerechnet über zehn Millionen Euro soll dieses nicht nur nach den letzten verbliebenen Massengräbern suchen, sondern gleichzeitig nach neuen Wegen im Umgang mit den Traumata aus Japans jüngster Geschichte.

Iwojima besaß nicht nur aufgrund der herausragenden geographischen Lage besonderen Wert für die amerikanischen Militärstrategen. Allein durch das dort stationierte japanische Frühwarnsystem, welches die Städte der Hauptinseln vor alliierten Bomberangriffen schützte, fanden unzählige US-Piloten ihr frühzeitiges Ende. Eine dieser Tragödien wurde im Jahre 2003 publik, jene vom September 1944, als man neun Flugzeuge eines Jagdgeschwaders über Ogasawara abschoß. Acht der Piloten wurden von den Japanern gefangengenommen – und geköpft. Ein einziger Überlebender konnte, von einem U-Boot frühzeitig gerettet, diesem grausamen Schicksal entrinnen. Er sollte später noch Geschichte schreiben als George Bush senior, 41. Präsident der Vereinigten Staaten.

Geschichten wie diese sind es, welche die Japaner lange Zeit an einer moralischen Reflexion ihrer Erlebnisse in Ogasawara hinderten. Massenhafte Kriegsverbrechen, vor allem in China, Erzählungen von zeremoniellen Enthauptungen, Folterungen und Erschießungen, aber auch die unmenschliche Behandlung amerikanischer oder britischer Kriegsgefangener in den Dschungellagern, wo viele dem Hungertod ausgeliefert waren, ja selbst grausige Gerüchte über Kannibalismus belasteten das Andenken der japanischen Armee, trotz ihres großen Heroismus, der im Gedenken Nippons heute noch einen hohen Stellenwert einnimmt.

Einigen dieser Helden gilt es für Japan gerade auf Iwojima noch nachzuspüren. Zum Beispiel Helden wie dem im Tokioter Yasukuni-Schrein geehrten Baron Takeichi Nishi, einem jungen Oberstleutnant, Kommandeur des 26. Panzerregiments auf Iwojima. Früh schon ein Mann von Welt, Goldmedaillensieger im Reiten bei den Olympischen Spielen 1932 in Los Angeles, danach gerngesehener Gast in den Kreisen des „Königs von Hollywood“, Douglas Fairbanks, erwuchs Nishi zur Leitfigur der damals gesellschaftlich ausgegrenzten – und später internierten – japanischstämmigen Amerikaner, aber auch zur von Kunst und Kultur erhofften Gestalt des Mittlers zwischen beiden Völkern.

Nishis verbissen kämpfendes Regiment verteidigte sich nach Verlust aller Panzer zuletzt in den Höhlen im nördlichen Teil der Insel. Mehrfachen persönlich an ihn gerichteten Aufforderungen der Amerikaner, die Waffen zu strecken, kam er nicht nach und fiel als einer der letzten seines Regiments im Kugelhagel feindlicher Maschinengewehre. Wie von den meisten, so wurde auch seine Leiche nie gefunden. Vielleicht werden schon in naher Zukunft sein und viele andere ungewisse Schicksale durch die japanischen Archäologen geklärt.

Foto: Das berühmte (und nachgestellte) Foto „Hissen der Flagge auf Iwojima“ des US-Kriegsfotografen Joe Rosenthal: In den Tunneln und Bunkern wurden die letzten japanischen Verteidiger 1945 eingemauert

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