© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

Wo ein Werk sich entfaltet und das Publikum ergreift
Größe durch Überforderung: Ralph Bollmann hat eine literarische Reise durch die deutsche Opernprovinz unternommen
Sebastian Hennig

In einem Zeitraum von zwölf Jahren praktizierte der Publizist Ralph Bollmann einen sanften Operntourismus. Keine Idee bewirkte sein Beginnen. Das Thema gebot sich selbst. Am Anfang stand 1997 die Überrumpelung durch eine „Fidelio“-Aufführung im mecklenburgischen Neustrelitz. Darauf folgte eine ausgiebige Suche nach der verlorenen Kunst in den Falten von Kleinstadt und Kleinstaaterei. Es wurde eine genußreiche Reise quer durch ein Land, das aus vielen Ländern besteht.

Die Deutschlandkarte im Vorsatz des Buches verzeichnet alle Standorte einschließlich der sieben inzwischen geschlossenen Musiktheater. Das ergibt schon numerisch eine beachtliche Bilanz: „Rechnet man nur Theater mit festem Ensemble und ganzjährigem Spielbetrieb, besitzt Deutschland ungefähr so viele Opernhäuser wie der gesamte Rest der Welt.“

Aber der Blick des Publikums auf das lokale Kunstangebot hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert. Dem Autoren begegnen immer wieder die gleichen Vorurteile, zum Beispiel „daß eine akademische Klientel die örtliche Oper nicht als satisfaktionsfähig betrachtet“. Er deutet an, warum das einmal anders war: „Die Zuhörer maßen die Leistungen des Ensembles nicht an Digitalaufnahmen, sondern allenfalls an den Klavierauszügen für den Hausgebrauch.“

An den größeren Häusern werden teure Stars eingekauft. An den kleineren Orten dagegen ist die einstige Hochkultur zur spannendsten Subkultur der Republik geworden. Das gefühlsechte Kunstleben findet dort statt, wo das Werk sich im gegenwärtigen Nu auf der Bühne und im Orchestergraben entfaltet und das Publikum ergreift. So wie bei einer Tannhäuser-Aufführung in Eisenach unweit des Wagnerschen Genius loci: „Was ich da höre, klingt so ganz anders als die Aufnahme, die wir unterwegs im Auto hörten. Dünn, kratzig, ungehobelt, weit entfernt vom seidenmatten Glanz der Berliner Staatskapelle. Schon nach wenigen Minuten denke ich: auch spannender. Schlanker, transparenter, kontrastreicher als der füllige Wagnerklang der Großorchester ….“

Der Autor wird immer wieder zum Anwalt der Handelnden seines Buches: „Ein bißchen viel Theaternebel vielleicht, aber ich finde, große Effekte dürfen sein auf der Opernbühne.“ „Aber was ist an gut gemachtem Handwerk schlecht?“ Einmal läuft ihm der Kritiker im Foyer vor die Füße. Die Lektüre von dessen Opernwelt-Rezension läßt ihn dann fragen, „ob ich überhaupt in derselben Vorstellung war. (…) Was, wenn das Naive zu der Oper sogar paßt? Auch ich finde es drollig, wie sich die Meininger Tosca-Sängerin mit ihrem weißen Nerzmäntelchen durch die Aufführung pummelt. Aber ist das nicht gerade die Geschichte? Wie dieses unschuldige Mädchen seinen Liebsten aus Ahnungslosigkeit ans Messer liefert?“

Das Lebensblut der unsterblichen Werke bindet Ensemble und Publikum in einen Kreislauf. Bollmann schildert viele Beispiele gelungener Kunst-Transfusion in Mainz, Ulm, Freiberg und Saarbrücken. Daß es daneben auch einige Mißgriffe gibt, kann bei einer lebendigen Sache nicht anders sein. Aber in der öffentlichen Wahrnehmung ist das Verhältnis verkehrt: „Was aus der weltweit reichsten Opernlandschaft am lautesten nach außen dringt, sind Klagerufe. Zu dem Bild, das Musiktheater sei ein sterbendes Genre, haben die Theaterleute auf diese Weise selbst beigetragen.“

Daß die Besucher zumeist dem Musiktheater den Vorzug vorm Schauspiel geben, liegt nicht am Bedürfnis nach Spektakel und Farbigkeit. Es ist paradoxerweise gerade das Maskenhafte, das Artifizielle, was der Oper mehr dramatische Macht verleiht, als die Mimesis des Sprechtheaters mit ihrer oftmals als peinlich empfundenen Simulation von Gefühlen aufbieten kann. Außerdem haben die Sänger in den letzten Jahrzehnten Darstellerfähigkeiten hinzu gewonnen. Anders als beim Sprechtheater bewahrt die Künstlichkeit der Oberfläche uns vor der trügerischen Identifikation mit dem Helden. Die reifen Menschen sitzen in der Oper. Sollen sich die Unmündigen im Schauspiel täuschen lassen. Bollmann erkennt ganz richtig: „Jung war das Theaterpublikum nie, das Wort von der fortschreitenden Vergreisung ist eine kulturpessimistische Legende.“

Das Buch ist zugleich ein Reiseführer durch die vielfältige deutsche Kulturlandschaft, ein Wiedervereinigungsbuch. An vielen Details wird erkennbar, daß deutlich mehr Verbindendes als Trennendes zwischen alten und neuen Bundesländern besteht. Es sind gerade die Unterschiede in unserer so differenzierten Kulturlandschaft, die auf Gemeinsames verweisen, ganz im Sinne von Giordano Brunos coincidentia oppositorum. So spürt er in Bremerhavener öffentlicher Architektur: „Es gibt nicht nur einen Geruch von alter DDR, sondern auch von alter Bundesrepublik.“ Im Frankfurter Dom wird die Wahlkapelle besichtigt. Auf einem Kirchhof in der brandenburgischen Provinz offenbart sich der preußische Geist: „eine Großmacht, die aus dem Nichts entstand und sich durch Überanstrengung am Leben hielt. (…) ständige Überforderung brachte staunenswerte kulturelle und politische Leistungen hervor.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Ralph Bollmann: Walküre in Detmold. Eine Entdeckungsreise durch die deutsche Provinz. Klett-Cotta, Stuttgart 2011, gebunden, 284 Seiten, 19,95 Euro

Foto: Szenenfoto aus „Die Walküre“ im Landestheater Detmold: Der gesamte Wagner-Zyklus „Der Ring des Nibelungen steht dort wieder Mitte Mai 2012 auf dem Spielplan (www.landestheater-detmold.de)

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