© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

Pankraz,
Viktor Jerofejew und das liberale Volk

Seid doch froh, daß wir Wladimir Putin haben“, sagte kürzlich der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew zu westlichen Korrespondenten, „er ist nicht nur ungemein pragmatisch, sondern auch viel liberaler als das Volk, dem er demnächst als Präsident wieder vorstehen wird.“ Und weiter: „Ja, die Moral im Land ist schwach, Korruption ist ein schamloses Mittel, im Leben voranzukommen, es gibt viel Gewalt. Das ist beängstigend. Aber genau deshalb  kann man nur ausrufen: Lang lebe Putin, der Pragmatiker!“

Jerofejew (Jahrgang 1947) ist ein sehr guter Erzähler und Literaturwissenschafter, der – noch in Sowjetzeiten – eine blendende Dissertation über Dostojewski und den französischen Existentialismus vorlegte und dessen Perestroika-Roman von 1990 „Die Moskauer Schönheit“ international Furore machte und in alle großen Sprachen übersetzt wurde. Er nimmt nie ein Blatt vor den Mund und gibt sich manchmal sogar wie die sprichwörtliche Axt im Walde.

Wer nun wirklich liberaler ist, der russische Präsident in spe Putin oder Viktor Jerofejew oder die Russen im ganzen, läßt sich natürlich nicht leicht entscheiden, doch des Schriftstellers  neueste Intervention provoziert einige interessante Fragen. Sind es wirklich immer nur die jeweiligen Machthaber, die über das Maß von Freiheit und Liberalität in einem Staat entscheiden? Oder spielt nicht auch die vorgegebene Volksmentalität eine wichtige, vielleicht die entscheidende Rolle, so daß sich jede Nummer eins und ihre Entourage wohl oder übel an sie anpassen müssen, auch wenn ihnen das contre cœur geht?

Und wer ist überhaupt das von Jerofejew apostrophierte „Volk“, wenn es um die Festlegung des Maßes an Liberalität und Rechtsstaatlichkeit geht? Überall, ob nun in Demokratien, Diktaturen oder autoritär geführten Staaten, gibt es gewisse tief eingeschliffene lokale Formen von Freiheitsbewußtsein: religiöse oder säkulare Mantras, über Generationen hinwegreichende Gesprächsrituale, Benehmensregeln, die jeder Mächtige zu beachten hat, wenn er nicht Abwahl, Dauergebrüll auf den Straßen oder gar Bürgerkrieg und Terror riskieren will.

Ein Problem für sich ist die mittlerweile in allen Herrschaftsformen wahrnehmbare Durchschlagskraft der modernen Medien und der hinter ihnen stehenden Operateure und Konrolleure, mit denen sich die Politiker so oder so arrangieren müssen. Manche sehen in ihnen sogar schon die „eigentlichen“ Entscheider. Aber wie sagte Je­rofejew in dem Pressegespräch? „Was wäre, wenn Putin auf allen Kanälen in schärfster Weise kritisiert würde? Würde er dann verlieren? Nein, er würde trotzdem gewinnen. Denn die meisten Russen mögen ihn. Er wird ihrer Vorstellung von einem starken Präsidenten voll gerecht.“

Gesetzt nun also, der gemeinte Präsident wäre nicht nur „stark“, sondern auch noch „liberal“,  liberaler jedenfalls als die meisten derer, die ihn gekürt haben – dem überdurchschnittlichen Gedeihen von freiem Meinungsverkehr und wahrer Liberalität stünde nichts mehr im Wege. Rußland könnte eines der freiesten und liberalsten Länder Europas werden, so wie das alte Preußen unter Friedrich dem Großen – nach übereinstimmender Meinung der Antipoden und Großideologen Voltaire und Rousseau – das freieste und liberalste Land des damaligen Europa war.

 „England hat die Bill of Rights, Preußen aber hat die reale Rechtssicherheit“, konstatierte seinerzeit Voltaire und wollte damit sagen: Auf dem Papier kann man vieles dekretieren, notwendig ist der Blick auf die realen Verhältnisse, und die sind dank der Liberalität und des Rechtssinns des regierenden Königs Friedrich II. in Berlin eben freier als in London mit seinem Parlament. Für moderne Soziologen klingt das selbstverständlich höchst ketzerisch; man denke an die „schweren Demokratiedefizite“ beim Alten Fritz!

Aber was erbringt denn ein Blick auf die realen Verhältnisse im heutigen, mit sämtlichen demokratischen Ölen gesalbten Berliner Politbetrieb der Angela Merkel? Dort wimmelt es doch geradezu von Plänen und Maßnahmen, die Freiheit der Bürger immer mehr einzuschränken und schließlich ganz abzuschaffen. Die Politik schreckt faktisch vor nichts mehr zurück. Man darf nicht mehr dies, man darf nicht mehr das. In intimste Bereiche des Lebens wird hineinregiert, Konstellationen werden gesetzlich „geregelt“ (oder sollen demnächst „geregelt“ werden), die sich von Natur aus gar nicht regeln lassen.

Dabei spricht man stets von einem „allgemeinen Interesse“, das durchgesetzt werden solle, von der „Herstellung der Gleichheit“, von der „notwendigen Anpassung an EU-Richtlinien“, von „Volksgesundheit“ und dergleichen. „Das Volk ist eben weniger liberal als der Präsident“, würde Jerofejew wohl kommentieren. Doch ist man schon längst über dessen Dichotomie hinaus. Weder das Volk noch irgendein liberaler Präsident haben noch etwas zu sagen, es geht nur noch um „Alternativlosigkeiten“, um „systemische Vorgaben“, denen man ein Schild mit der Aufschrift „Im Namen des Volkes“ umhängt.

Die neueste Entwicklung in Sachen „Euro-Rettung“ liefert bestürzende Beispiele. Weder das Volk noch gediegene Experten à la Henkel & Hankel werden gefragt: über den Ruf nach  Volksentscheiden entsetzen sich die Offiziellen, als hätte ihn der Teufel persönlich ausgestoßen. Alles Wichtige spielt sich nur noch im engsten Kreis von einigen Superbürokraten ab, die dem Land ein angeblich alleinseligmachendes „System“ überstülpen wollen. Viele ernstzunehmende Kommentatoren sprechen bereits vom Ende der Demokratie in Westeuropa.

Angesichts dieses Wahnwitzes nimmt sich das politische Leben in Rußland trotz der von Jerofejew so beklagten Korruption und Gewalt fast wie eine Musterdemokratie aus. Und dabei ist Putin noch nicht einmal zum Präsidenten gewählt! An sich kann es mit ihm nur noch besser werden. Er ist, wie alle sagen, kein Systemdenker, sondern ein Pragmatiker. Und Pragmatiker sind viel liberaler als Systemdenker.

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