© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  46/11 / 11. November 2011

Orangefarbener Kreisverkehr
CDU: Auf dem Parteitag in Leipzig muß Angela Merkel der Basis ihre ständigen Kurswechsel erklären
Paul Rosen

In den siebziger Jahren, als in Bonn erbitterte Schlachten um die Neue Ostpolitik tobten, wurde die CDU mir dem geflügelten Wort charakterisiert, sie sei identisch mit der SPD, aber minus 20 Prozent plus zehn Jahre später. Das Bonmot zielte auf die Haltung des damaligen CDU-Chefs Rainer Barzel zur Ostpolitik, der Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) entgegenschleuderte, was dieser im Verhältnis zum Osten vorhabe, gehe so nicht und jetzt nicht. Viele lasen daraus ein Nein und wunderten sich 1982 bei der Ablösung der SPD-Regierung durch Helmut Kohl (CDU), daß „Weiter so“ zum Leitwort der neuen Regierung wurde. Inzwischen hat die CDU den Abstand zur SPD weiter verringert und „zahlreiche Positionen übernommen, die einst als Markenzeichen der linken Opposition galten“, wie die Neue Zürcher Zeitung staunte.

Zunächst hatten die Genossen im Berliner Willy-Brandt-Haus noch über die eigenartigen Kehrtwendungen der Merkel-CDU zum Beispiel in der Energiepolitik gelacht und höhnisch gespottet, wenn Merkel bei dem von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg geblieben wäre, hätte sie sich die Pirouetten sparen können. Angesichts des rabiaten Annäherungskurses dürfte Parteichef Sigmar Gabriel und Generalsekretärin Andrea Nahles das Lachen vergangen sein. Von der „Plagiatspartei CDU“ schrieb bereits die SPD-nahe Frankfurter Rundschau und stellte zähneknirschend fest, Merkel passe ihre Partei den „gesellschaftspolitischen Realitäten“ an – also jener linken Sicht der Dinge, die nach Jahren oder Jahrzehnten stets im peinlichen Irrtum zu enden pflegt, wie kleine Beispiele (Mengenlehre) und große (Wiedervereinigung) zeigen.

In der Tat hat die CDU jede Menge Tafelsilber verschleudert. Die Partei hat inzwischen das DDR-Kindertagesbetreuungssystem ins Programm übernommen. Das Bekenntnis zu Ganztagsschulen und zur Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems aus Haupt- und Realschulen sowie Gymnasien sollte zunächst im Mittelpunkt des am Sonntag beginnenden Parteitages in Leipzig stehen. Inzwischen gibt es aber mit der Euro- und Staatsschuldenkrise ein größeres Thema, das aber mit einem neuen Wendehalsprojekt in Konkurrenz steht. Nach jahrzehntelangem Widerstand will nun auch die CDU wie bereits SPD, Grüne und Linkspartei einen verpflichtenden Mindestlohn, auch wenn dieser nicht so heißen soll.

Zuvor hatte die CDU bereits andere Fundamente eingerissen. Neben dem Abschied von einer gesicherten Energieversorgung war es vor allem die Aussetzung der Wehrpflicht, bei der besonders das Tempo erstaunen ließ. Die CDU rückte vom Wehrdienst ab, ohne zunächst das Gesetz zu ändern. Daran wurde auch ein sehr bedenkliches Verhältnis zum Rechtsstaat deutlich. Gravierend waren die Änderungen in der Europa- und Währungspolitik. Die CDU verabschiedete sich weitgehend von den Parlamentsbeteiligungsrechten und mußte in mehreren Urteilen vom Bundesverfassungsgericht daran erinnert werden, daß die Legislative unverzichtbarer Bestandteil einer Demokratie ist. Für die Steuerzahler bedeutsam dürfte der Abschied von der „No-Bail-Out“-Klausel sein. Damit ist die Mithaftung Deutschlands für Schulden ausländischer Staaten gewiß.

Mit dem Mindestlohn-Schwenk verhält es sich nicht so einfach. Die bisherige Absage an eine gesetzliche Regelung entspricht dem neoliberalen Geist des CDU-Parteitags in Leipzig 2003, von dem heute in der Partei nichts mehr zu spüren ist. Damals präsentierte der inzwischen abgetauchte Friedrich Merz sein Steuerreformkonzept mit drei Stufen, das die Steuererklärung angeblich auf dem Bierdeckel ermöglichen würde. Allerdings wurde auch seinerzeit schon mit dem Gesundheitsprämien-Modell zur Änderung des deutschen Krankenkassensystems eine Tendenz zum Sozialismus (erst allen das Geld wegnehmen und anschließend umverteilen) deutlich, die inzwischen zur stärksten Strömung geworden ist und mit dem Gerechtigkeitsprinzip gekoppelt wird.

Merkel, die wie einst Kohl die Strömungen beobachtet und sich im günstigen Moment an die Spitze der Bewegung setzt, hatte noch nie ein Problem, die Gesinnung zu wechseln. Die Grundhaltung, sich selbst treu zu bleiben, kennt sie nicht. Daher hat sie als oberste Wetterhenne der CDU in Leipzig auch nichts zu befürchten. Egal wo der Trend hinläuft, Merkel ist schon da.

„Wenn sich der Wind dreht, dreht sich die CDU“, ärgerte sich das wirtschaftsnahe Handelsblatt über die „eine Art lohnpolitischer Gefühlsduselei“, die sich auf der Lohnkostenseite der Unternehmen bald bemerkbar machen dürfte. Allerdings gibt es auch eine andere Sicht der Dinge: „Das ist doch im besten Sinne konservativ“, erklärte CDU/CSU-Fraktionsvize Michael Meister auf Zeit online. Er empfindet eine Mindestlohnregelung als Rückbesinnung auf die katholische Soziallehre, in deren Tradition tatsächlich auch der Hauptbefürworter, der frühere nordrhein-westfälische Arbeitsminister Karl-Josef Laumann, steht. Der Politikwissenschaftler Gerd Langguth, ein  Merkel-Erklärspezialist, glaubt, daß beim Mindestlohn „nicht  die Konservativen, sondern die Wirtschaftsliberalen vor den Kopf gestoßen“ werden. In der Tat ist nicht verständlich, wenn Löhne so gering sind, daß man nicht davon leben kann. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß die CDU jetzt einen Kurswechsel betreibt, „der für sogenannte bürgerliche Parteien noch vor kaum zwei Jahren völlig tabu war“ (Handelsblatt).

Die Antwort, was bei der ganzen Dreherei herauskommen wird, hat die CDU in einem Beschluß selbst gegeben – ausgerechnet auf ihrem Leipziger Parteitag 2003: „Eine Partei, die ihre Grundsätze verliert und sie dem Zeitgeist opfert, wird beliebig und austauschbar.“

Foto: CDU-Schlüsselband mit FDP-Anhänger: Der Berliner Koalition drohen stürmische Zeiten

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