© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

Der Flaneur
Auf der Rolltreppe
Josef Gottfried

Ich steige aus der U-Bahn, weiche den anderen Fahrgästen und ihren Blicken aus, trinke den „coffee to go“ und schmiede Pläne. Der letzte Schluck aus dem Pappbecher ist kalt geworden und bitter, am Boden finde ich ein Haar, es wird von „ihm“ sein. Kurzer Blick nach links und rechts, „es“ ist nicht da. Ich zerdrücke den Becher, werfe ihn aber nicht auf den Boden, bei so vielen Leuten würde mich bestimmt jemand ermahnen, wenn ich das täte.

Der Mülleimer hat vier Löcher, ich gehe halb um ihn rum, damit ich den Becher in den Papiermüll werfen kann – die Leute. Auf der Rolltreppe stelle ich mich auf die rechte Seite, links gehen einige Eilige an uns vorbei. Ich lege meine rechte Hand auf das Laufband, nicht weil ich Halt bräuchte, sondern weil ich nicht weiß, wohin mit ihr. Ich fasse in etwas Glitschiges, es bleibt an den Fingern kleben.

In einem Zeitraum von weniger als einer Sekunde hebe ich die rechte Hand vom Band, indem ich meine Ellenbeuge anwinkle, bis die Hand auf Brusthöhe ist, gleichzeitig drehe ich den Handrücken um 180 Grad nach rechts, bis er auf den Boden zeigt und ich in die Innenfläche blicken kann.

Ich starre auf meine Finger und sehe grünlich-feuchtes Nasensekret, unterdrücke den Würgereiz, drehe meinen Kopf nach links, als ob das helfen würde, und rudere hilflos mit der Hand in der Luft herum, weil ich mir unschlüssig bin über den Ort, wo ich die Hand abschmieren soll. Dann ist die Sekunde fast vorbei, ich schüttele die Hand, wie nach dem Händetrocknen, ein Teil fliegt ab, den Rest verteile ich wieder auf dem Band. Erneut dieser Würgereiz, Wunsch nach Händewaschen.

Plötzlich steht „es“ wieder neben mir. „Ich habe dir doch gesagt, daß du die Laufbänder nicht anfassen sollst.“ – „Hast du nicht!“ empöre ich mich und reibe mit der Hand an meiner Jeans.

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