© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

„So war’s!“
Ungeschönt und unverzerrt: Der Chronist des Zweiten Weltkrieges, Paul Carell, wäre in dieser Woche hundert geworden
Günther Deschner

Die Wüstenfüchse“, „Sie kommen – Der deutsche Bericht über die Invasion“ oder „Unternehmen Barbarossa“: Mit diesen historischen Sachbüchern wurde Paul Carell, eigentlich Paul Karl Schmidt, zu einem der erfolgreichsten Bestseller-Autoren der Bundesrepublik. Seine von ihm so erarbeitete Mischung aus Fakten und erzählerisch aufbereitem Erinnerungsbericht formierte das Geschichtsbild der Überlebenden und vermittelte der nachgewachsenen Generation der sechziger und siebziger Jahre eine Suggestion von „So war’s!“ Kaum jemand dürfte damit die Vorstellung von der „Wehrmacht im Kampf“ nachhaltiger geprägt haben als Carell – in Deutschland und weltweit.

Carells Bücher erlebten nicht nur im deutschen Original Auflage um Auflage, Volks-, Buchclub- und Taschenbuchausgaben, sondern wurden auch in bis zu 14 Sprachen übersetzt – darunter nach dem Zusammenbruch des Ostblocks auch ins Russische, Polnische, Tschechische etc. Die weltweite Gesamtauflage hat bis heute drei Millionen Exemplare erreicht. So ist Paul Carell zum eigentlichen „Chronisten des Zweiten Weltkriegs“ geworden.

Die Höhen und Tiefen deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert hat er persönlich erfahren: die Turbulenzen der Weimarer Republik, Aufstieg und Untergang des Dritten Reiches, Besatzung und Umerziehung, das deutsche Nachkriegswunder, die Teilung und die Seinsprobleme einer irritierten Nation. Und den Fall der Mauer. Am 9. November 1989 rief Carell beschwingt seine Freunde an: „Daß ich diesen Tag noch erleben durfte!“

In einfachen Verhältnissen als einziges Kind seiner alleinerziehenden Mutter im Haus seines Großvaters, eines Schuhmachermeisters, im thüringischen Kelbra am Fuß des Kyffhäusers, aufgewachsen, schloß sich Schmidt als Oberprimaner dem Nationalsozialismus an, als Student der Volkswirtschaft, Philosophie und Psychologie in Kiel wurde er Mitglied einer Burschenschaft und hatte in der studentischen Selbstverwaltung und im NS-Studentenbund leitende Funktionen. Die Doktorarbeit schrieb er über ein sprachpsychologisches Thema („Beiträge zur Lehre von der Bedeutungsbildung in den indogermanischen Sprachen“), er wurde wissenschaftlicher Assistent und arbeitete über Meinungsforschung und Zeitungskunde.

Für den Umgang mit dem Wort war er damit gut vorbereitet, als er 1937 zur „Dienststelle Ribbentrop“ stieß, dem Berliner Büro des deutschen Botschafters in London. Kurz darauf holte ihn der inzwischen zum Reichsaußenminister ernannte Joachim von Ribbentrop ins Auswärtige Amt, um dessen Nachrichtenapparat zu modernisieren. Schnell avancierte Schmidt in der Presse- und Nachrichtenabteilung. Er hielt die von ihm eingeführten täglichen Pressekonferenzen für die Auslandskorrespondenten ab, und bald bildete sich der inoffizielle Titel „Sprecher des Auswärtigen Amts“ heraus.

Immer wieder erlebte er den „Herrn der Zeit“, Adolf Hitler, und die oft als bizarr empfundene Atmosphäre „bei Hofe“. Schmidts diplomatisches Geschick, sein analytischer Verstand, sein Bekanntheitsgrad und seine stupenden Sprachkenntnisse (Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, Finnisch und Lettisch!) prädestinierten ihn bald auch zum trouble shooter der verfahrenen Außenpolitik des Dritten Reiches. Als Sonderbotschafter in Ankara gelang es ihm, die Türkei vom Kriegseintritt an der Seite der Alliierten abzuhalten, den Großmufti von Jerusalem, einen geistlichen Führer der sunnitischen Moslems, brachte er nach Deutschland, in Gesprächen mit der Altbolschewikin Mme Kollontai, damals Sowjet-Botschafterin in Stockholm, sondierte er 1943 – nach dem Verlust der Schlacht um Stalingrad! – die Voraussetzungen für einen Separatfrieden mit der Sowjetunion. Den Krieg hat er aber nicht nur als Diplomat oder als Presselenker „im Auge des Zyklons“ verbracht, sondern – nicht zuletzt wegen unkonventioneller Auftritte in der Reichskanzlei – längere Zeit als Nachrichten- und Feindlage-Offizier an der Ostfront.

1945 wurde der Ministerialdirektor Dr. Paul Schmidt fast drei Jahre – „von einem amerikanischen Lager zum anderen“, von Oberursel über Dachau bis Nürnberg – interniert. In dieser Zeit entstand ein (noch unveröffentlichtes) Tagebuch mit detaillierten Einblicken in das Innenleben des Dritten Reichs, das auch Diskussionen mit anderen inhaftierten ehemaligen Politik- und Wehrmachtsgrößen festhält.

In seinem zweiten Leben wurde Schmidt Journalist und Schriftsteller. In den 1950er Jahren schrieb er in der Zeit und im Spiegel, ab den 1960er Jahren bei verschiedenen Zeitschriften und Zeitungen des Verlegers Axel Springer – kein untypisches Bild in den fünfziger Jahren. Wie in Henri Nannens Stern und bei Rudolf Augstein im frühen noch deutsch-nationalen Spiegel herrschte auch im Hause Springer eine Schlußstrich-Mentalität: Neben dem einstigen Ribbentrop-Mitarbeiter und NSDAP-Mitglied Paul Karl Schmidt wirkte an der Springer-Spitze auch der jüdische Demokrat und aus den USA heimgekehrte Emigrant Ernst Cramer. Die beiden obersten Springer-Berater waren sich bei weitem nicht immer einig, sie rieben sich auch aneinander – aber beide stellten zurück, was sie während des Dritten Reichs getan, unterlassen, erlitten oder verbrochen hatten.

Daneben wirkte Schmidt-Carell bis zu Springers Tod 1985 im Hintergrund als Berater und oberster Sicherheitschef des Konzernherrn. Für ihn organisierte er unter anderem Personen- und Abhörschutz, bauliche Veränderungen in Verlags- und Privathäusern – und er verfaßte Reden und Artikel für den Verleger.

In der Öffentlichkeit berühmt wurde Paul Karl Schmidt unter seinem aus den beiden Vornamen gebildeten Pseudonym Paul Carell. Unter diesem Namen schrieb er seine militärgeschichtlichen Standardwerke, die zu Bestsellern wurden. Wo immer man sich in seinen Wohnungen und Büros in Scheesel, Hamburg oder Rottach-Egern mit ihm traf, immer standen in den Regalen auch einige Meter Carell: Originalausgaben, Buchclub-Editionen, Taschenbücher, auf deutsch, in allen Weltsprachen, aber auch auf dänisch, finnisch, niederländisch oder lettisch. Sprach man ihn auf seine Bücher an, deutete „PC“ hinter sich: „Über den Krieg zu schreiben“, sagte er, „ist kein leichtes Handwerk. Doch über ihn zu schreiben, ist immer noch leichter, als ihn zu erleben.“

Paul Carell hat sich über diese Schwierigkeiten zu keiner Zeit einer Täuschung hingegeben und alle seine Stoffe mit großem Aufwand erarbeitet. Die sieben Bücher, die er über den Zweiten Weltkrieg geschrieben hat, haben alle eines gemeinsam: Sie gehen an keiner einzigen erreichbaren Quelle vorbei und werden durch die akribische Befragung von Tausenden von Zeitzeugen – vom einfachen Soldaten bis zum Feldmarschall – selbst zur Quelle. Es begann 1958 mit „Die Wüstenfüchse“, noch im Buch-Verlag von Henri Nannen erschienen. Für Carell war es: „Mein liebstes Buch. Das war noch ein anderer Krieg als später gegen Stalin und die USA.“

„Sie kommen“, 1960 erschienen, erzählt die Geschichte der alliierten Invasion in Frankreich 1944. Der Titel wurde auch in Frankreich zum Standardwerk. Carell lächelte stets, wenn er davon erzählte: „Die Franzosen haben mich für einen der Ihren gehalten – und sie haben das Buch 500.000 Mal gekauft.“

„Unternehmen Barbarossa. Der Marsch nach Rußland“, erschienen 1963, wurde zum größten Erfolg des Autors, gefolgt von „Verbrannte Erde. Schlacht zwischen Wolga und Weichsel“ und dem Bildband „Der Rußlandkrieg. Fotografiert von Soldaten“ – mit dieser Trilogie hat Paul Carell als Chronist des Krieges den Deutschen einen Teil ihrer Vergangenheit ungeschönt und unverzerrt zurückgegeben.

Zu seinen Bewunderern gehörte auch Deutschland-Kenner Vernon Walters, bis 1991 Botschafter der USA in Bonn. Kurz vor seinem Abschied von Deutschland hatte er Carell ins Hamburger Generalkonsulat zu einem Frühstück eingeladen. Gesprächsthema: die deutsche Geschichte. Walters ließ sich die in Maroquinleder handgebundenen Exemplare der deutschen Ausgaben von „Unternehmen Barbarossa“ und „Verbrannte Erde“ signieren. „Diese beiden Bücher“, sagte er, „sind die besten, die ich über den Rußlandkrieg gelesen habe.“

Zu einem als Abschlußband geplanten Buch über den „Kampf ums Reich“ ist es bezeichnenderweise nie gekommen. Immer wieder schob Paul Carell das Projekt vor sich her. Alles Drängen von Verlagen, alle Nachfragen von Freunden halfen nichts. Als ich den Autor vor zwanzig Jahren, zu seinem achtzigsten Geburtstag besuchte, kamen wir wieder einmal darauf zu sprechen. „Sie kennen mich doch inzwischen gut genug“, sagte er dazu, „dieser Endkampf ums Reich hatte für uns keine Chance. Hier wurde nur noch verloren, zerstört, gestorben. Ich habe es in meinem Inneren nicht geschafft, der Chronist des Untergangs zu sein.“ Er hatte aber auch einen tröstlichen Satz bereit: „Geschichte ist für mich nicht nur Vergangenheit: Sie wird jeden Tag weiter geschrieben.“

Foto: Unterzeichnung des Dreimächtepaktes zwischen Deutschland, Italien und Japan in der Neuen Reichskanzlei Berlin (1940): Italiens Außenminister Graf Galeazzo Ciano, der Reichminister des Auswärtigen Joachim von Ribbentrop, Japans Botschafter Suburu Kurusu und der Gesandte Paul Schmidt (alias Paul Carell), der den Wortlaut des Vertrages verliest

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