© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

Von Prag an den Rhein
Nachruf: Zum Tod des Dichters Jiri Grusa
Jörg Bernhard Bilke

Der Schriftsteller, ehemalige Prager Dissident und spätere Diplomat Jiri Grusa ist vergangenen Freitag im Alter von 72 Jahren in einem Krankenhaus in Hannover gestorben. Geboren am 10. November 1938 in Pardubitz an der Elbe, hundert Kilometer östlich von Prag, hatte er nach seinem Philosophie- und Geschichtsstudium an der Karls-Universität in Prag, das er 1962 mit der Promotion abschloß, die nichtkommunistische Literaturzeitschrift Tvár (Das Gesicht) gegründet. Einer seiner Mitarbeiter und Freunde war der oppositionelle Schriftsteller und Dramatiker Vaclav Havel. Beide Autoren wurden wegen ihrer Kritik am kommunistischen System von der „Staatssicherheit“ überwacht und verfolgt. Jiri Grusa wurde 1967 mit Berufsverbot belegt.

Grusa arbeitete in mehreren Bauunternehmen, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, und schrieb in seiner Freizeit an seinem Roman „Dotaznik“. Darin schilderte er seine Erlebnisse vor und nach der Besetzung seines Heimatlandes durch die sozialistischen „Bruderstaaten“. Diesen Roman, der 1978 in Kanada in englischer Sprache und 1979 unter dem Titel „Der 16. Fragebogen“ auf deutsch erschien, hatte er schon 1975 in seiner damals gegründeten Zeitschrift Literaturhefte veröffentlicht. Wegen dieses Buches wurde er 1978 verhaftet, nach weltweiten Protesten aber acht Wochen später wieder entlassen.

Mit Freunden gründete er den Untergrundverlag „Edice petlice“ (Edition hinter Schloß und Riegel). Nachdem er schon im Januar 1977 die „Charta 77“ unterzeichnet hatte, worin die Regierung in Prag aufgefordert worden war, gemäß der KSZE-Schlußakte von Helsinki die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten, wartete man nur auf eine günstige Gelegenheit, ihm als „Staatsfeind“ die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Als er 1981 nach Kanada und in die Vereinigten Staaten reiste, wurde er gegen seinen Willen ausgebürgert, worauf er nach Bonn ging;1983 wurde er deutscher Staatsbürger.

Nach dem Sturz des Kommunismus kehrte er nach Prag zurück und wurde 1991 zum Botschafter der Tschechoslowakei in Bonn ernannt, ein Amt, das er bis 1997 innehatte. Von 1998 bis 2004 war er Botschafter in Wien.

Im nächsten Jahr wird von Jiri Grusa postum ein kritisches Buch zum Leben und Wirken des tschechischen Exilpolitikers und Staatspräsidenten Edvard Beneš (1884–1948) erscheinen. Beneš hatte im Sommer 1945, nach der Heimkehr aus dem Moskauer Exil, die „Beneš-Dekrete“ verkündet und damit die Vertreibung von drei Millionen Sudetendeutschen verfügt.

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