© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

Rendezvous mit Kapitän Haddock
Eine Hommage an Europas Kulturgut: Steven Spielbergs „Tim und Struppi“
Karlheinz Weissmann

Seit dem 26. Oktober läuft „Die Abenteuer von Tim und Struppi – Das Geheimnis der Einhorn“ in den Kinos. Wenn das in Deutschland eine breitere Aufmerksamkeit findet, dann wegen der Regie von Steven Spielberg, nicht wegen der Vorlage von Georges Rémi, genannt „Hergé“. Zwar gibt es die dreiundzwanzig Tim-und-Struppi-Bände seit langem auch in Übersetzung, aber wenn man die dauernde Resonanz vor allem in Frankreich und Hergés Heimat Belgien mit der hierzulande vergleicht, dann erscheint der Unterschied dramatisch. Das erklärt auch, warum es jenseits der Grenze von Anfang an Kritik am Plan Hollywoods gab, sich Tintin (so der französische Name Tims) und Miou (der französische Name Struppis) anzueignen.

Diese Vorbehalte bestanden zu Recht. Die große Frage, wie man die „ligne claire“ Hergés und die Flächigkeit seiner Bilder angemessen ins Filmische übersetzen soll, hat Spielberg nicht beantwortet. Die Anmut des Vorspanns, in dem die Figuren aus den Büchern als Silhouetten auftreten, getaucht in die Farbigkeit der Originale, verliert sich sofort, nachdem man die erste Szene gesehen hat. Dabei ist deren Inhalt durchaus reizvoll, tritt doch Hergé selbst als Straßenzeichner auf, der den ihm Modell sitzenden Tim zeichnet und das Ergebnis genau im Stil des Meisters abliefert.

Aber gleichzeitig setzt die Irritation des Zuschauers ein über eine perfekt animierte Kulisse, in der die stups- und knollennasigen Figuren trotz aller technischen Mühe immer wie Fremdkörper wirken. Ärgerlich ist dabei vor allem das Babyhafte der Hauptperson, ein Tim, der irgendwie pausbäckig erscheint und an Zwieback- oder Malzbierwerbung aus alten Zeiten erinnert. Man vergißt das zugegebenermaßen – und vor allem vergißt es das mehrheitlich jugendliche Publikum – angesichts der rasanten Geschichte und der zum Teil atemberaubenden Effekte der 3D-Fassung. Und dem Liebhaber der Tim-und-Struppi-Geschichten bleibt immerhin das Rendezvous mit Kapitän Haddock und Madame Montefiori und Schulze und Schultze und der Wiedererkennungseffekt im Hinblick auf die eingearbeiteten Motive aus „Der Schatz Rackhams des Roten“ oder „Die Krabbe mit den goldenen Scheren“. Es bleibt ihm aber auch der Ärger über das, was Spielberg weggenommen hat, etwa den Tauchgang des berühmten Haifisch-U-Boots.

Zugegeben, die Zahl der Puristen und der – wie man in Frankreich sagt – „Tintinologen“ unter den Zuschauern dürfte klein sein. Die Mehrheit wird sich gut unterhalten, der Minderheit bleibt die Genugtuung, daß auch ein Spielberg die Probleme nicht bewältigt hat, die sich seit je der filmischen Adaption von Tim und Struppi entgegenstellten. Weder die Versionen als abendfüllender Zeichentrick („Tim und Struppi im Sonnentempel“, 1969; „Tim und Struppi und der Haifischsee“, 1972) noch der Versuch einer Realversion („Tim und Struppi und das Geheimnis um das goldene Vlies“, 1961; „Tim und Struppi und die blauen Orangen“, 1964) konnten überzeugen; am besten gefielen noch die in den neunziger Jahren für das Fernsehen produzierten kürzeren Folgen, die eine akzeptable Mitte zwischen Vorlage und modernen Sehgewohnheiten hielten.

Zuletzt versöhnt vielleicht auch die Hartgesottenen, daß es sich bei „Tim und Struppi – Das Geheimnis der Einhorn“ auch um eine Referenz des kultur-imperialistischen Riesen an den alten Kontinent handelt. Ganz gleich wie man den Film bewertet, er ist ohne Zweifel eine Hommage an Europas Kulturgut, zu dem Hergé etwas beigetragen hat. Francis Bergeron, von dem eine neue Biographie Hergés stammt (Hergé, Qui suis-je?, Puiseaux: Pardès), hat dessen bleibende Bedeutung folgendermaßen beschrieben: „Hergé hat den Comic revolutioniert. Bis zu Tintin wandte sich der Comic ausschließlich an Kinder, und ausschließlich auf eine komische Weise. Es gab praktisch niemals Bezugnahmen auf die Politik, auf die Gegenwart, auf die verschiedenen zeitgenössischen Aspekte. Bis zu Tintin hat keine gezeichnete Geschichte jemals ein echtes Szenario entwickelt. Bis zu Tintin konnte man keinen Comic lesen ‘wie einen Roman’“.

Wenn man in Hergés Stadt Brüssel das große Comic-Museum besucht, muß man den Eindruck gewinnen, daß Walt Disney eine marginale Figur war, und in Angoulême, der französischen Kapitale der „bandes dessinées“ (Comics), sieht man nirgends Mickey Mouse oder Donald Duck, aber ein Denkmal für Hugo Pratts Comic-Helden Corto Maltese und eines – für Hergé.

Foto: Tim (Jamie Bell) und sein treuer Foxterrier Struppi: Wie Fremdkörper in perfekt animierter Kulisse

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