© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  45/11 / 04. November 2011

Ein System vor dem Kollaps
Gesundheitspolitik: Der demographische Wandel beschert der Gesetzlichen Krankenversicherung enorme ¬ finanzielle Probleme
Jost Bauch

Die demographische Entwicklung in Deutschland ist die Mutter aller Krisen. Diesen Befund bestätigt auch der jüngste Demographiebericht der Bundesregierung (siehe Seite 6). Der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter hat auch Konsequenzen für die Entwicklung des Gesundheitswesens und der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Fritz Beske, Altmeister der Gesundheitssystemforscher und Gründer des Instituts für Gesundheitssystem-Forschung (IGSF) in Kiel, hat jüngst wieder eine weitere Studie vorgestellt, die unter anderem die Auswirkungen von demographischer Entwicklung und medizinischem Fortschritt in der GKV bis 2050 untersucht.

Das Ergebnis aller sechs Untersuchungen lautet: Das Gesundheitswesen ist in seiner jetzigen Form unfinanzierbar und steht vor dem Kollaps, wenn nicht einschneidende Reformen vorgenommen werden. Begründet wird dies mit der sich aus demographischen Gründen verändernden Krankheits- und Morbiditätsentwicklung. Wenn man die zukünftige Altersentwicklung der Bevölkerung abschätzen kann und die Morbiditätsbelastung der einzelnen Altersgruppen relativ gleich bleibt, dann kann man ziemlich zuverlässig die zukünftige Krankheitsentwicklung und damit auch die Kostenentwicklung der GKV prognostizieren. Mehr ältere Patienten verursachen mehr altersspezifische Krankheiten – und die sind in der Regel besonders kostenintensiv.

Basis der IGSF-Studien sind die koordinierten Bevölkerungsvorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes bezüglich Geburtenziffer, Bevölkerungszahl, Altersstruktur, Lebenserwartung und Altenquotient. Hauptproblem für die GKV ist, daß sich die Altersstruktur dramatisch ändert sich: Bis 2050 geht die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen von 15,6 Millionen auf 10,7 Millionen zurück. Die Gruppe im erwerbsfähigen Alter von 20 bis 64 Jahren geht von 49,7 auf 35,7 Millionen zurück – eine Abnahme von 14 Millionen. Dafür wächst die Altersgruppe der über 65jährigen von 16,7 auf 23 Millionen – eine Zunahme von 6,3 Millionen. Gleichzeitig steigt die Lebenserwartung: Jungen haben heute eine von 77,2 Jahren, die Mädchen von 82,4. 2060 werden die Jungen statistisch 88 Jahre, die Mädchen 91.

Das IGSF zeigt an ausgewählten Krankheiten auf, wie die Multimorbidität von mehreren Krankheiten beim gleichen Patienten mit einem hohen Versorgungsaufwand altersbedingt ansteigt. So wird beispielsweise die altersbedingte „Makuladegeneration“ (Ursache von Erblindung) von 710.000 Erkrankten (2007) auf 1,6 Millionen (2050) steigen, ein Plus von 125 Prozent. Bei Diabetes wird mit einer Zunahme von 20 bis 22 Prozent gerechnet. Legt man die Zahl der Erkrankten pro 100.000 Einwohner zugrunde, so ist bis zum Jahr 2050 sogar eine Diabetes-Zunahme um 44 bis 46 Prozent anzunehmen.

Beim Herzinfarkt prognostiziert das IGSF Steigerungsquoten von 75 bzw. 109 Prozent, beim Schlaganfall Zunahmen von 62 bzw. 94 Prozent und beim Krebs 27 bzw. 52 Prozent. Dramatisch sind die Zuwächse bei der Demenz als klassischer Alterskrankheit. Hier wird eine Fallzunahme von 1,1 Millionen 2007 auf 2,2 Millionen im Jahr 2050 zu verzeichnen sein – ein Anstieg um 113 Prozent. Die jährlichen Demenz-Neuerkrankungen pro 100.000 Einwohner steigen sogar um 155 Prozent. Mit der weiteren Alterung der Bevölkerung nimmt auch die Zahl der Pflegebedürftigen zu. Ihre Zahl dürfte von 2,2 Millionen auf 4,4 Millionen steigen. Die Zahl der stationär zu Pflegenden steigt von 625.000 auf 1,6 Millionen.

Beske kommt daher zu dem Schluß, daß die demographische Entwicklung zusammen mit dem medizinischen Fortschritt zu erheblichen Kostensteigerungen im Gesundheitswesen und in der GKV (wo 90 Prozent der Bevölkerung versichert sind) führen wird. Ähnliches gilt auch für die private Krankenversicherung. Schon heute ist es so, daß die Pro-Kopf-Ausgaben mit dem Alter zunehmen. Derzeit gibt die GKV 966 Euro für die bis zu Zehnjährigen aus. 1.200 Euro sind es bei den 40jährigen, 3.673 Euro bei den 70jährigen und 5.343 Euro bei den 90jährigen.

Damit widerspricht Beske „Kompressionstheoretikern“ wie James F. Fries (Stanford University), die behaupten, Krankheiten würden zunehmend ins höhere Alter verschoben, da die Bevölkerung immer gesünder werde. Dort würden chronische Krankheiten „komprimiert“ (kürzere Dauer), so daß eine Überalterung der Bevölkerung gar nicht so große Auswirkungen auf die Kostenentwicklung habe. Bei idealer Kompression sterben die Menschen gleichsam aus der Gesundheit heraus.

Ein zweites Argument besagt, daß die Sterbekosten mit dem Alter sinken. Die höchsten Kosten verursachen 60jährige, dann flachen diese Kosten ab. Dies stimmt zwar im Einzelfall, da aber relativ wenige Menschen mit 60 Jahren sterben, ist dies statistisch irrelevant. Viele Gesundheitspolitiker setzen daher auf Prävention, um die Häufigkeit von Krankheiten zu reduzieren. Dies ist aber ein Mythos, wie der frühere Wirtschaftsweise Bert Rürup auf einem Ärztetag formulierte: „Prävention ist notwendig, aber sie ist keine Geldquelle. Denn eine verhinderte Krankheit schaffe Platz für eine weitere – eventuell teurere.“

Beske kommt zu dem Ergebnis, daß bei einer Annahme von einem Prozent Ausgabensteigerung durch den medizinischen Fortschritt der GKV-Beitragssatz bis 2050 auf bis zu 28,4 Prozent und bis 2060 auf bis zu 31,7 Prozent steigen könne. Bei zwei Prozent Ausgabensteigerung müßte der Beitragssatz auf bis zu 42,1 Prozent bzw. 51,7 Prozent steigen. Das ist natürlich völlig indiskutabel. Rechnet man die Beiträge zur Rentenversicherung und die steigenden Steuerbelastungen hinzu, würden die Abgaben mehr als das gesamte Brutto-Einkommen einer Person aufzehren.

Dies alles macht für das IGSF eine völlig neue Ausrichtung der Gesundheitspolitik erforderlich. „Während heute zumindest theoretisch der Leistungsbedarf und damit die Ausgaben der GKV das jeweils zur Verfügung zu stellende Finanzvolumen bestimmen, wird in Zukunft das jeweils vorhandene Finanzvolumen Art und Umfang der Leistungen bestimmen, die mit diesem Finanzvolumen finanziert werden können. Die bedarfsbestimmte Finanzierung wird abgelöst durch eine einnahmeorientierte Finanzierung“, so Beske (IGSF-Schriftenreihe Band 120). Eine solche Umstellung ist nach Beske über das Modell von „Festzuschüssen“ möglich. In der Zahnmedizin ist ein solches System schon in der GKV institutionalisiert worden. Beske schlägt vor, dieses System auch bei der Hilfsmittelversorgung anzuwenden. Danach gibt es dann für bestimmte Leistungen (etwa Bandagen oder Einlagen) nur einen Festbetrag, der unterhalb der 100-Prozent-Finanzierung liegt und somit nicht mehr als Sachleistung gewährt wird. Die langfristige Entwicklung der Finanzen wird zudem die Abkehr vom GKV-Sachleistungssystem in vielen Kernbereichen der Medizin erforderlich machen.

Schon in den achtziger Jahren wurde vom IGSF gefordert, den GKV-Leistungskatalog in Grund- und Zusatzleistungen zu differenzieren, wobei die Grundleistungen Sachleistungen sind, die Zusatzleistungen mit Selbstbeteiligung gewährt werden. Natürlich müßten solche Systeme durch Härtefallregelungen abgefedert sein – was zwar die GKV entlastet, den Bundeshaushalt bzw. Steuerzahler aber belasten würde. Angesichts der Verpflichtungen allein aus der Finanz- und Euro-Krise ist fraglich, wo der Finanzminister solche Zuschüsse hernehmen soll. Welches Finanzierungssystem sich letzlich auch immer durchsetzt: Die 100-Prozent-Finanzierung von medizinischen Leistungen durch die GKV gehört angesichts der sich zuspitzenden Morbiditätsentwicklung in weiten Bereichen der Vergangenheit an.

 

Prof. Dr. Jost Bauch lehrt Medizinsoziologie an der Universität Konstanz.

Die Studie „Solidarische, transparente und bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung im demographischen Wandel“ kann beim IGSF in Kiel bestellt werden: www.igsf.de

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen