© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/11 / 28. Oktober 2011

Mehr Religion als Wissenschaft
Schwachstelle Makroevolution: Eine neue Auseinandersetzung mit Darwin / Streit um Erklärungslücken
Tobias Heckel

Der britische Naturforscher Charles Darwin (1809–1882) hat das christliche Weltbild nicht zum Einsturz gebracht. Jedenfalls nicht er allein. Seine „Evolutionstheorie“ wirkte im 19. Jahrhundert aber wie ein Brandbeschleuniger. Die Erosion des Glaubens war in vollem Gange, in gebildeten Kreisen wie in den breiten Schichten des Volkes, als der examinierte Theologe 1831 zu einer fünfjährigen Forschungsreise mit der britischen Zehn-Kanonen-Brigg „HMS Beagle“ aufbrach.

Der wesentliche Ertrag dieser Expedition, 1859 publiziert („On the Origin of Species by Means of Natural Selection“), war Darwins Lehre von der Veränderlichkeit der Arten. Als er sie formulierte, quälte ihn das Gefühl, „einen Mord zu begehen“. Gemeint war ein Gottesmord, da der Gelehrte einen übernatürlichen Schöpfer, der nach christlichem Glauben jede der Millionen Arten für alle Zeiten erschaffen haben soll, in seinem revolutionären Weltbild kurzerhand eliminierte. Dem zeitgenössischen Prozeß der Säkularisierung gab er damit ein wissenschaftlich akzeptiertes Fundament, das vor allem in Deutschland, durch den an der Universität Jena lehrenden Darwin-Apostel Ernst Haeckel (1834–1919), die Konturen einer ersatzreligiösen, materialistischen Heilslehre annahm.

Wie kürzlich an den Elogen zu Darwins 200. Geburtstag abzulesen war, bestimmen seine Lehren heute das kaum noch hinterfragte Selbstverständnis der Diesseitskultur des modernen Menschen, der sich nicht als Geschöpf Gottes, sondern als Endprodukt einer Entwicklungsgeschichte begreift, die vor unausdenklichen Zeiten mit dem Einzeller begann, irgendwann zu den Primaten führte und dann binnen fünf Millionen Jahren schließlich an Australopithecus und Paranthropus vorbei auf den Homo sapiens zulief.

Erbitterte öffentliche Kontroversen über die Evolutionslehre finden heute nur noch in den USA statt. Dort wird in einigen Bundesstaaten heftig darüber gestritten, ob Intelligent Design in die Lehrpläne gehört. Noch 1987 hatte sich der US-Supreme Court unter Verweis auf die Trennung von Staat und Kirche gegen den biblischem „Kreationismus“ in den Schulbüchern ausgesprochen.

In Europa haben sich christliche Theologen für die friedliche Koexistenz zwischen Glauben und Wissen, Schöpfungsbericht und Abstammungslehre entschieden, so daß auf diesem bis in die 1920er Jahre heiß umstrittenen Kampfplatz beinahe Friedhofsruhe herrscht. Was die Biologin Esther Hempel (TU Dresden) verwunderlich findet, da populäre Versatzstücke des Darwinismus zwar den Meinungsmarkt dominieren, aber die Zahl der Evolutionsgegner in Deutschland bei Umfragen trotzdem erstaunlich konstant zwischen 20 und 30 Prozent liegt. Eine Erhebung der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland habe 2010 sogar ergeben, daß 38 Prozent der Befragten die Evolutionstheorie bestreiten (Forum Katholische Theologie, 3/11).

Diese beachtliche Minderheit braucht sich nach Hempels Auffassung nicht in die Ecke vormoderner Sektierer verbannen zu lassen. Dafür seien die Erklärungslücken des Darwinschen Theorieangebots denn doch zu groß. Konzentriert auf die Frage, ob die Evolutionsforschung wirklich objektivierbare Aussagen über „echte Höherentwicklung“, qualitative Veränderungen, also zum Beipsiel vom Frosch zum Krokodil (Makroevolution), machen könne, ist Hempel bemüht, diese Plausibilitätsdefizite aufzudecken. Sie räumt dabei zunächst die Möglichkeit mikroevolutionärer Veränderungen ohne weiteres ein.

So weisen die berühmten, auf einer Insel des Galapagos-Archipels beheimateten Darwin-Finken mehr als ein Dutzend verschiedener Schnabelformen auf. Aber die so durch Separation vom südamerikanischen Festland, durch Selektion und Mutation entstandenen Unterarten sind nur Abwandlungen einer Ursprungsform. In keinem Fall ist eine neue Art entstanden, die sich mit einer der anderen Varianten nicht kreuzen ließe. Um Beispiele solcher Mikroevolutionen, auch erzeugt durch gezielte Pflanzen- und Tierzucht, ist die Biologie in der Regel nicht verlegen.

Andererseits fällt es Hempel auf, daß im repräsentativen Journal of Molecular Evolution zwischen 1996 und 2008 nicht ein einziger Aufsatz zum Problem der Makroevolution erschienen ist. Bei einer Auswertung gängiger Studienbücher zur Evolutionsbiologie hätte ihr allerdings auffallen können, daß die schwierigen Probleme qualitativer Abänderung von Organismen, oft exemplarisch dargestellt an Zwischenformen von Fischen und Amphibien, Entwicklungsstufen der Landwirbeltiere, dort offen diskutiert und eingeräumt werden.

Für Hempel indiziert diese Schwachstelle indes umstandslos die Fragwürdigkeit des wissenschaftlichen Anspruchs der Evolutionslehre. Der einzige Mechanismus, der einen Qualitätssprung wie den von der Fischflosse zu amphibischen Extremitäten und im weiteren Verlauf dann vom Bauplan der Reptilien zu dem der Vögel erkläre, ergebe sich aus den Regeln der Mutation. Doch experimentelle Simulationen, an der Fruchtfliege, mit 3.000 erfaßten Mutationen, oder am Bakterium Escherichia coli mit 50.000 Evolutionsgenerationen, ergaben nur minimale genetische Varianten, die alle auf das Konto der Mikroevolution gingen. Es fehle daher der experimentelle Nachweis, „daß Makroevolution überhaupt funktioniert“.

Den üblichen Einwand, in keinem Labor wären die Bedingungen von drei Milliarden Jahren Erdgeschichte zu überprüfen, pariert Hempel mit einem schwachen und einem stärkeren Argument. Schwach ist ihre Behauptung, auch in längsten Zeiträumen werde das Unmögliche nicht möglich, weil man sich eine Mutation, die den Weg von Reptilienschuppen zum Federkleid eröffne, „nur schwer vorstellen kann“.

Stärker ist ihre These, der zufolge eine lebensfähige Zwischenform nur infolge eines sich auf den ganzen Organismus erstreckenden „Umbaus“, durch eine Makromutation entstünde. Die gäbe es aber nicht. Und lediglich sukzessive, partielle Veränderungen brächten tödliche Selektionsnachteile. Denn kein Lebewesen werde von der Selektion verschont, weil es „wegen Umbau“ geschlossen habe. Kein Wunder, daß „bis heute kein plausibles Konzept“ dafür vorliege, wie zum Beispiel „ein Reptil in ein Säugetier umgewandelt werden kann“.

Der Rekurs auf unabsehbare Zeiträume sei daher nichts als ein „Lückenbüßer für unbekannte Mechanismen“, die empirisch unzugänglich sind: „Aber unmögliche Dinge passieren auch dann nicht, wenn man lange wartet.“ Woraus für Hempel folgt, sich dem Urteil des baltischen Ökologen Jakob von Uexküll anzuschließen: Die Evolutionslehre sei mehr Religion als Wissenschaft.

Foto: Haeckels Stammbaum des Menschen: „Unmögliche Dinge passieren auch dann nicht, wenn man lange wartet“

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen