© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/11 / 28. Oktober 2011

Der Gegen-Tirpitz
Karl Galster, ranghoher Offizier der Kaiserlichen Marine, konnte der Tirpitzschen Schlachtflotten-Konzeption wenig abgewinnen
Rolf Bürgel

Im Oktober 1907 erschien ein schmaler, fast unscheinbarer Band mit dem Titel „Welche Seekriegsrüstung braucht Deutschland?“ Auf etwa fünfzig Seiten wird darin die deutsche Flottenplanung, wie sie erst sieben Jahre zuvor, am 14. Juni 1900, vom Reichstag mit dem von Admiral Alfred von Tirpitz eingebrachten Zweiten Flottengesetz beschlossen worden war, förmlich auf den Kopf gestellt.

Während für Tirpitz das Ziel die Schaffung der heimischen Schlachtflotte war, die England als größte Seemacht der Welt von einem Angriff abschrecken sollte, legte Karl Galster den Schwerpunkt seiner Strategie auf Kreuzer mit großem Aktionsradius und starker Bewaffnung, die von kolonialen Stützpunkten außerhalb der Nordsee den britischen Überseehandel bedrohen sollten, sowie auf Kleinkampfmittel und U-Boote, die einer Blockade der deutschen Häfen entgegenwirken sollten. Das sorgte innerhalb der Marine für Empörung, war doch der Autor einer der ranghöchsten Offiziere der Kaiserlichen Marine: Vizeadmiral a.D. Karl Galster. Leben und Werk Galsters stellt jetzt Klaus Franken, ehemaliger Bibliotheksdirektor der Universitätsbibliothek Konstanz, im neuesten Band der „Kleinen Schriftenreihe zur Militär- und Marinegeschichte“ des Winkler Verlages vor.

In der Zeit des new navalism (William Langer), in der sich Seemacht in der Anzahl der einsatzbereiten Schlachtschiffe ausdrückte, mußten die Thesen Galsters revolutionär wirken. Galster hat zwar durchaus zutreffend erkannt, daß die in der Nordsee konzentrierte Schlachtflotte weder den deutschen Überseehandel schützen noch den englischen angreifen konnte. Doch seine Alternativen waren in vielem unglaubwürdig. Angesichts der seestrategischen Lage Deutschlands im toten Winkel der Deutschen Bucht und des Fehlens überseeischer, verteidigungsfähiger Stützpunkte hätten auch die von Galster geforderten Kreuzer mit großem Aktionsradius und starker Bewaffnung keine Chance gehabt, wie der Erste Weltkrieg später bewiesen hat.

Völlig offen ließ Galster die Frage, wie England reagiert hätte, da es doch eine in Übersee stationierte deutsche Kreuzerflotte als wesentlich größere Herausforderung empfunden hätte als die in der Nordsee konzentrierte Schlachtflotte, die von der britischen Marineführung nie als wirkliche Bedrohung empfunden wurde, wie Christian Wipperfürth 2004 in seiner Studie „Von der Souveränität zur Angst. Britische Außenpolitik und Sozialökonomie im Zeitalter des Imperialismus“ überzeugend nachgewiesen hat. Auch Galsters Vorstellung des Einsatzes von U-Booten, die eine Blockade der eigenen Küste durch die gegnerische Schlachtflotte brechen sollten, erscheint beim damaligen Stand der Technik ziemlich unrealistisch. Der U-Boot-Handelskrieg, der England im Ersten Weltkrieg in arge Bedrängnis bringen sollte, war Galster noch völlig fremd. Daß es gerade die von ihm propagierten Kleinkampfverbände wie Torpedoboote und Minen waren, die den Übergang der britischen Flotte von der Nah- zur Fernblockade bewirkten, übersah Galster ebenso.

„Eine Bewertung der Galsterschen Konzeption ist deshalb schwierig, weil nur eine Skizze der Gedanken vorliegt. Man muß annehmen, daß manches, was ungereimt erscheinen kann, von Galster durchaus bedacht wurde – aber daß der Admiral es nicht detailliert darlegen konnte oder wollte.“ So urteilt Franz Uhle-Wettler, der Galster in seiner Tirpitz-Biographie („Alfred von Tirpitz in seiner Zeit“, Graz 2008) sogar ein eigenes Kapitel widmet. Hinzu kam, daß in Deutschland „keine seemännische Überlieferung bestand, an der man die Richtigkeit der neuen Auffassungen hätte nachprüfen können“ (James C. Corbett). Trotzdem werden Galsters Gedanken von Franken als durchdachte Alternative zum Tirpitzschen Risikogedanken dargestellt. Eine kritische Auseinandersetzung mit Galsters Thesen, so wie sie um den Tirpitz-Plan seit nunmehr einhundert Jahren geführt wird, findet nicht statt.

Bemerkenswert ist, daß Galster mit seinen dem offiziellen Kurs der Marineleitung entgegenstehenden Ansichten erst nach seiner Pensionierung an die Öffentlichkeit getreten ist. Neben den Broschüren „Genügt unsere Küstenverteidigung?“, „Welche Seekriegsrüstung braucht Deutschland?“ und „Kriegsbereitschaft an der Meeresküste“ schrieb er Artikel in eher linksliberalen und pazifistischen Zeitungen, in letzteren zum Teil anonym. Hier erwartete er die meiste Resonanz, erkannte allerdings sehr spät, daß er oft parteipolitisch instrumentalisiert worden war. Es war besonders diese öffentliche Resonanz Galsters, die der Marineführung unerwünscht war. Unter dem auf ihn ausgeübten Druck stellte er seine publizistische Tätigkeit zeitweilig ein. Erst 1925 folgte noch eine weitere Broschüre mit dem Titel „England, deutsche Flotte und Weltkrieg“, die aber weitgehend unbeachtet blieb.

Die Darstellung des Autors ist gut lesbar, wenn er auch Wesentliches und Nebensächliches gleichberechtigt nebeneinanderstellt, gewürzt mit zahlreichen Zitaten und ergänzt durch die Wiedergabe von zwanzig Privatbriefen, in denen Galster verschiedenen Korrespondenzpartnern – vor allem aus dem linksliberalen Spektrum – seine in sich oft widersprüchlichen Ansichten darlegt. Franken verweist auf zweihundert weitere im Internet abrufbare Briefe Galsters. Die Antworten auf diese Briefe enthält der Band leider nicht.

Wie auch immer man Karl Galster bewerten mag, er gehört untrennbar zum deutschen Flottenbau der „Ära Tirpitz“ (Walther Hubatsch). Wer sich mit ihr beschäftigt, kommt an dem Buch von Klaus Franken nicht vorbei.

Klaus Franken: Vizeadmiral Karl Galster – Ein Kritiker des Schlachtflottenbaus der Kaiserlichen Marine. Verlag Dieter Winkler, Bochum 2011, broschiert, 208 Seiten, 26 Euro

Foto: „Kaiser Wilhelm und seine Flotte“ (mit Prinz Heinrich und Großadmiral Alfred von Tirpitz), Wandgemälde von Franz Müller-Gossen 1906: Im toten Winkel der Deutschen Bucht

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