© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/11 / 28. Oktober 2011

Bedürfnis nach Zugehörigkeit
Lob der Grenze: Symbolische Ordnungen sind die Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens und jeder Art von Politik
Karlheinz Weissmann

Während des Sommers lag in den französischen Buchhandlungen auf den Stapeln der Neuerscheinungen ein schmaler Band. Es handelt sich um jene Art von politischem Essay, dem man in Deutschland kaum eine Marktchance geben würde, der aber bei unserem Nachbarn Tradition hat: die mehr oder weniger abgeschlossenen Überlegungen eines bekannten Mannes oder einer bekannten Frau zu einem zentralen Thema, am liebsten aus überraschender Perspektive, die Kernthese provokativ zugespitzt. In diesem Fall geht es um Régis Debrays „Eloge des frontières“ – „Lob der Grenzen“ (Gallimard).

Der Verfasser entwickelt auf gerade einmal neunzig Seiten eine Abrechnung mit jener „schwachsinnigen Idee“, daß es der Menschheit besser gehe, wenn man die Grenzen abschaffe, daß es demokratischer und fortschrittlicher sei, wenn man jede Markierung aufhebe, die ein Land vom anderen trennt, wenn alles nur noch „trans“ oder „inter“ ist, man nach den Ärzten und den Reportern bald auch „Zöllner ohne Grenzen“ habe und als Leitfiguren eigentlich der Nomade und der Freibeuter gelten müßten.

Debray zitiert Paul Claudel mit den Worten: „Japaner, ihr seid viel glücklicher in eurem kleinen geschlossenen Garten.“ Aber er weist auch darauf hin, daß das gesagt wurde, bevor Japan seine Expansion auf dem asiatischen Kontinent vorantrieb und bevor die USA das Inselreich niederwarfen. Ihm ist vollkommen klar, daß die Dynamik der Geschichte keine vollständige Herauslösung, keine dauerhaft wirksame Isolation erlaubt, aber er plädiert für einen Akt der Klugheit, der darin besteht, Grenzen als prinzipiell notwendige und sinnvolle Einrichtung zu begreifen, die es erlaubt, bestimmte Lebens-Räume zu kontrollieren und für deren Einwohner zu schützen.

Darin sieht Debray eine entscheidende Aufgabe der Politik, die sie aber heute nicht mehr bewältigt: „Die Ökonomie globalisiert sich, die Politik provinzialisiert sich.“ Auch wenn Staatschefs und Regierungen im großen Maßstab agieren wollen und auf eine „Weltinnenpolitik“ hinzuzusteuern meinen, bleibt es dabei, daß ihre – die spezifisch politischen – Instrumente ungeeignet sind, global zu agieren. Denn Politik ist immer raumbezogen, muß sich auch zum Zweck der Legitimierung auf eine hinreichend klar erkennbare und das heißt abgrenzbare Bevölkerung auf einem bestimmten Territorium beziehen.

Die Völker, so Debray, „die ihre Seele bewahren“, haben deshalb unbewußt eine gefühlsmäßige, fast sakrale Bindung an ihre Grenzen; sie wissen, daß ihre Einzigartigkeit davon abhängt, daß ihr Land einen „Ausnahmeort“ bildet. Das erkläre die Erbitterung, mit der man in der Vergangenheit, aber auch in der Gegenwart, um Grenzen kämpft, gerade dann, wenn diese keine „natürlichen“ sind, das erkläre aber auch die Gleichgültigkeit der Europäer ihnen gegenüber, angesichts einer Säkularisierung, die nach der Religion auch alle anderen Lebensgebiete erfaßt.

Der hymnische Ton, in dem Debray eine Vergangenheit besingt, in der die Grenzen heilig waren, wird die meisten Leser irritieren. Dasselbe gilt für den Teil seiner Argumentation, in dem er die Entgrenzung als Teil eines Prozesses der Dehumanisierung beschreibt, als Vorgang, der dem Wesen des Menschen fremd ist. Es sei kein Zufall, schreibt er, daß das Wort Paradies vom altiranischen pairidaiza für „abgeschlossener Garten“ hergeleitet wird und noch das himmlische Jerusalem von Mauern umgeben sein soll. Die Grenze ist notwendiger Teil jener „symbolischen Ordnungen“, die der Mensch wieder und wieder errichtet, um des Chaos Herr zu werden.

Das beginnt schon mit der Abgrenzung im Begrifflichen – oben und unten, männlich und weiblich, schön und häßlich, gut und böse, apollinisch und dionysisch – und muß sich fortsetzen in der Praxis. Wird eine Mauer beseitigt, wächst dafür eine andere, gibt es keine sichtbaren Grenzen, gibt es unsichtbare. Ohne Grenze ist der Mensch schon deshalb nicht, weil zu seinen existentiellen Erfahrungen die der leiblichen Begrenztheit gehört. Wir nehmen von Anfang an einen Unterschied zwischen uns und der Umwelt wahr, weil wir Begrenzte sind. Es gibt nach Debray so etwas wie die „Weisheit des Körpers“, auch des „sozialen“, die erkennt, daß das „Bedürfnis nach Zugehörigkeit“ von zentraler Bedeutung ist: „Wenn man nicht mehr weiß, wer man ist, ist man böse auf alle Welt, und vor allem auf sich selbst.“

So überzeugend die Argumentation Debrays wirkt, es ist doch zu betonen, daß ihr zwei entscheidende Aspekte fehlen. Der erste hat zu tun mit der Fundierung des Grenzbedarfs in der Natur des Menschen. „Territorialität“ gehört zum Wesen unserer Spezies, das heißt, daß es auch eine biologische Grundlage für unsere Neigung gibt, dem Janus zu opfern, schon den Fuß in der Tür als Angriff zu deuten, den Poolplatz symbolisch zu markieren, unsere Gärten einzuzäunen, das ganze Eisenbahnabteil zu belegen und jedenfalls in der Vergangenheit mehr Männer ihr Leben für das Vaterland – und das heißt ein durch seine Grenzen konkretisiertes Gebiet – gegeben haben, als für Frau und Kinder.

Daraus resultiert weiter die Stärke des Verteidigers, dem das Wissen, die Grenze des Eigenen zu schützen, entscheidende Kräfte zuwachsen läßt, und eine Vorstellung von Heimat und „Verwurzelung“, die man nicht im oberflächlichen Sinn metaphorisch deuten darf. Wer sich angewöhnt hat, diese Sachverhalte im Zeichen von Mobilität und Globalisierung geringzuschätzen und die Grenzenlosigkeit nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus touristischer Perspektive zu begrüßen, weil hier der Schlüssel für Wachstum und Fortschritt und Völkerverständigung liege, dem ist doch entgegenzuhalten, daß damit Sicherungen zerstört wurden, deren Aufbau in der Vergangenheit ungeheure Anstrengungen gekostet hatte.

Auch dieser Aspekt kommt bei Debray etwas kurz, was vielleicht damit zusammenhängt, daß er als Franzose einer Nation angehört, der das sanctuaire – ein unberührbarer gewissermaßen heiliger Raum kollektiver Existenz – selbstverständlich, wenngleich dauernd bedroht erscheint.

Vielleicht haben diese Defizite auch mit der fehlenden Reflexion der Grenze zum Absoluten zu tun. So richtig Debrays Hinweis auf die Notwendigkeit ist, das Ungeordnete zu ordnen, es wird doch nirgends deutlich, ob damit nur dem Nichts widerstanden wird, oder ob die Errichtung einer Grenze ihren Sinn daraus erhält, daß der Mensch auch im Verhältnis zum Übermenschlichen einer Grenze bedarf. Damit bewegt man sich allerdings in den Bereich der theologischen Überlegungen, die Debray vielleicht bewußt ausgeklammert hat, um sich ganz auf den politischen Aspekt zu konzentrieren.

In Frankreich entstand verhältnismäßig früh eine Bewegung, die als „souveränistisch“ bezeichnet wird, weil sie die Notwendigkeit der staatlichen Hoheit verteidigte. Sie fand ihre Anhänger gleichermaßen auf der Linken wie der Rechten, und mit seinem neuen Buch hat sich Debray als einer der Köpfe der linken souverainistes profiliert. Das bedeutet für ihn auch, daß er einen politischen Zielpunkt erreicht hat: vom Kampfgefährten Che Guevaras und Idol der Außerparlamentarischen Opposition zum Berater Salvador Allendes, dann Mitterrands, von dem er sich im Streit getrennt hat, zur Position eines unabhängigen politischen Beobachters.

Debrays Neigung zur Häresie und zu überraschenden Volten war schon früher erkennbar, etwa an der Schärfe des Tons, mit dem er nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Bildung einer europäischen Großmacht gefordert hatte, oder an der heftigen Kritik der EU, und sie macht jetzt seine Liebeserklärung an die Grenze verständlich, die notwendige Voraussetzung jeder Art von Politik.

Wichtig ist dabei die Feststellung, daß Debray seine Ausführungen nicht als Nostalgie mißverstanden wissen will, als Abgesang auf eine untergehende Welt. Vielmehr weist er darauf hin, daß der „Gegenschlag“ unmittelbar bevorsteht: Während man Weltbürgertum als Schulfach einführt und die Politische Klasse von global governance schwatzt, haben Technologie und gigantische Wanderungsbewegungen längst zahllose neue Nischen und Sonderexistenzen geschaffen, hat sich eine andere Form der Apartheid etabliert, ist cyber citizenship nichts als ein Phantom, zerfallen lange eingeübte Formen der Solidarität und entstehen neue, und wird – wer geglaubt hatte, daß die Vaterländer und die Kriege der Vergangenheit angehören – damit konfrontiert, daß sich die Frage der „kollektiven Zusammengehörigkeit“ mit neuer Dringlichkeit stellt und die Landnahmen längst im Gang sind, daß die Staaten der Dritten Welt wieder in Stämme zerfallen und die in der Ersten sich mit dem Problem auseinandersetzen müssen, wie sie der zunehmenden Anarchisierung im Inneren und der immer weitergehenden Auslieferung an Marktinteressen begegnen wollen.

Angesichts der großen „Konvergenz“ verteidigt Debray die „Divergenz“, verlangt sogar eine neue Art von „Guerilla“, die mit Entschlossenheit das Besondere der eigenen Kultur – ihre „Form“ – verteidigt. Zustimmend zitiert er den Historiker Fernand Braudel mit den Worten: „Eine Zivilisation weigert sich grundsätzlich, ein kulturelles Gut anzunehmen, das ihre Tiefenstrukturen in Frage stellt. Diese Annahmeverweigerungen, diese heimlichen Feindschaften führen in das Herz einer Zivilisation.“ Der Abschluß von Byzanz gegenüber dem lateinischen Westen, Italiens gegenüber der Reformation, der angelsächsischen Welt gegenüber dem Marxismus, das alles waren nach Debray legitime Akte der Verteidigung eines kulturellen Ganzen, das seine Grenzen zu schützen wußte.

Man muß Debray sicher nicht in allem folgen und darf auch darauf hinweisen, daß die Realität des Raums und die Notwendigkeit der Grenze auf der Rechten längst ernstgenommen wurde, daß die Linke hier wie im Fall der Geopolitik einfach nachzuholen hat. Damit soll die Bedeutung seines Buches aber nicht in Abrede gestellt werden. Debrays Essay muß man als weiteres Indiz für die Zersetzung des „alten Denkens“ lesen, Vorbote jenes Wandels, der die Gewißheiten zerschlägt, von denen man seit 1945 oder 1989 glaubte, daß sie die Zukunft bestimmen würden.

Régis Debray: Eloge des frontières. Gallimard, Paris 2010, kartoniert, 104 Seiten, 7,99 Euro

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