© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  44/11 / 28. Oktober 2011

Finanzpolitischer Endkampf
Euro-Rettung: Angesichts ihres hilflosen Krisenmanagements verliert die Bundesregierung immer mehr an Glaubwürdigkeit
Paul Rosen

Eines Morgens muß Martin Schulz, deutscher Chef-Sozialdemokrat im Europäischen Parlament, einen besonders hellen Moment gehabt haben: „Die planen die Einsetzung eines Wiener Kongresses“, rügte der SPD-Mann im Radio die Euro-Rettungsaktionen. Entschieden wird über die finanzielle und wirtschaftliche Zukunft Europas in Gremien, die keiner mehr genau kennt und die niemandem verantwortlich sind. So wie 1814/15 bestimmen Kabinette, was passiert. Und in Berlin wählt sich Kanzlerin Angela Merkel inzwischen die Gremien aus, die ihre Politik abzunicken haben, ehe sie mandatiert zum nächsten Gipfel fährt, wo kürzlich geschlossene Verträge nach Belieben umgeschrieben werden. Widerstand gibt es nur vereinzelt, obwohl den meisten Bundestagsabgeordneten klar sein dürfte, daß das Euro-Gebälk morsch und einsturzgefährdet ist. Lethargisch wird in Berlin hingenommen, daß Griechenland nicht 110, sondern plötzlich 250 Milliarden Euro braucht. Niemand stellt mehr die Frage, wer sich so verrechnet hat.

Die Euro-Krise und die Staatsschuldenkrise haben aber auch eine gute Seite: Jeder Bürger kann beinahe täglich erfahren, welch schlampiges Verhältnis deutsche Politiker zur Wahrheit haben. Im Sommer 2010 wollte Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) noch sein Wort geben, daß der Rettungsschirm ausläuft. Das sei „klar vereinbart“. Bald wird aus dem Provisorium eine Dauereinrichtung, in die Deutschland übrigens nicht nur Garantien, sondern erstmals eine Bareinlage von 20 Milliarden Euro zu zahlen hat. Und aus den Milliarden Euro, mit denen Pleiteländern geholfen werden muß, ist inzwischen eine Billion geworden. Ein Ende der Garantie- und damit Risikoerhöhungen ist nicht in Sicht. Ein Grundsatz aus der Wirtschaft läßt sich jedoch von der Politik nicht wegdiskutieren: Wer immer höher bürgt, geht immer höhere Risiken ein. Der Haushaltsausschuß des Bundestages beschloß in der vergangenen Woche: „Die Gewährleistungsgrenze von rund 211 Milliarden Euro für Deutschland und das Gesamtvolumen der Kreditvergabe von 440 Milliarden Euro wird auf jeden Fall eingehalten.“ Niemand sollte sich täuschen: Der Beschluß ist so viel wert wie eine Abstimmung im Kindergarten für gutes Ausflugswetter.

Noch am 30. September erklärte der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer im Bundesrat: „Weitere Aufstockungen oder größere Risiken aus den übernommenen Garantien beispielsweise durch finanztechnische Hebel lehnen wir ab.“ Ein solcher Schritt berge die Gefahr, daß auch die Finanzstabilität Deutschlands Schaden nehmen könnte. Recht hat er, der Horst Seehofer. Inzwischen ist der Fall eingetreten. Der Hebel ist in den Leitlinien (Guidelines) für die Europäische Finanzfazilität (EFSF), wie der Rettungsschirm im verquasten EU-Bürokratensprech heißt, enthalten. Der Endkampf gegen die Reste von finanzpolitischer Solidität und Stabilität in Europa beginnt. Am Schluß dürfte die alte Welt – ganz ohne Krieg – in Trümmern liegen.

Und Seehofers CSU? Die denkt gar nicht daran, aus der Koalition auszusteigen oder wenigstens bei der für diesen Mittwoch angesetzten Abstimmung im Bundestag (das Ergebniss lag bei Redaktionsschluß noch nicht vor) gegen die Leitlinien mit der Hebelwirkung zu stimmen. Im Gegenteil: „Mit der Abstimmung im Plenum des Bundestages wollen wir die weitere Ausgestaltung des Rettungsschirms auf eine breite Basis stellen und der Bundesregierung den Rücken stärken“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Stefan Müller, ein offenbar willfähriger Zeitgenosse aus der Riege der Altmaiers, Gröhes und Pofallas der Union. Peter Gauweilers (CSU) Attacke scheint längst vergessen. Der Wille der überwältigenden Mehrheit der Deutschen spielt bei den Kongreßpolitikern keine Rolle. Die FDP gibt es de facto nicht mehr. Ihre Bundestagsfraktion ist dabei, sich selbst abzuwickeln. Den letzten Hauch einer Chance für die FDP, die auch den Hebel nicht wollte und jetzt schluckt, bildet die Operation des mutigen Ostwestfalen Frank Schäffler, der mit einem Mitgliedervotum den dauerhaften Rettungsschirm ESM verhindern will.

Merkel ändert ihre Positionen beinahe im Minutentakt. Am 24. Oktober war um 12 Uhr bei der regierungsfreundlichen Nachrichtenagentur dpa unter Bezugnahme auf Äußerungen des Regierungssprechers Steffen Seibert zu lesen, die Kanzlerin wolle mit einem klaren Mandat des Haushaltsausschusses zum entscheidenden Euro-Gipfel reisen. Keine 90 Minuten später reichte Merkel der Haushaltsausschuß nicht mehr. Mit der Quellenangabe „Unionskreise“ ließ die Führung in Berlin verlauten, der gesamte Bundestag werde über die Ausgestaltung des Rettungsschirmes beschließen. Die FDP wurde von dem Schwenk gar nicht erst informiert.

Die europäischen Leichtmatrosen Merkel und Sarkozy werden mit ihrem Dauerkongreß keine Dauerstabilität schaffen. Der Vergleich von Schulz mit dem Wiener Kongreß weist die Richtung: 1848 begann die Revolution.

Foto: Angela Merkel auf dem Weg ins Kanzleramt: Positionsänderungen im Minutentakt

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