© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/11 / 21. Oktober 2011

Im Interesse der Herkunftsstaaten
Der Migrationsforscher Johannes-Dieter Steinert über bundesdeutsche Anwerbeabkommen mit den Mittelmeeranrainern als Mittel der Außenpolitik
Felix Krautkrämer

Herr Professor Steinert, Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister dankte im März den türkischen Gastarbeitern, daß sie kamen, als Deutschland sie rief, um dieses Land mit aufzubauen. Ähnlich äußerte sich unlängst auch Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit. Wie bewerten Sie solche Äußerungen?

Steinert: Man kann nicht oft genug betonen, daß der enorme Wohlstand der Bundesrepublik durch die Arbeit vieler Menschen geschaffen wurde. Dazu gehören auch ausländische Arbeiter, Angestellte und Unternehmer.

Im Oktober 1961 schlossen die Bundesrepublik und die Türkei ein Anwerbeabkommen zur Entsendung von Gastarbeitern nach Deutschland. Von wem ging damals die Initiative aus?

Steinert: Die Initiative ging damals von der türkischen Regierung aus. Im Vergleich zu Italien, Griechenland und Spanien, deren Regierungen es zuvor gelungen war, eine entsprechende Vereinbarung mit der Bundesrepublik abzuschließen, wurde die Türkei erst relativ spät wanderungspolitisch aktiv.

Warum?

Steinert: Den Beginn markierten die nach dem Militärputsch von 1960 begonnenen Reformen, die die Wirtschaftsstruktur des Landes verändern und das Zahlungsbilanzdefizit vermindern sollten. Bis dahin hatte die Türkei keine Massenauswanderungen erlebt. Sie war zu dieser Zeit ein überwiegend agrarisch geprägtes Land mit stagnierenden Exporten und steigenden Importen. Etwa 77 Prozent der Erwerbstätigen arbeiteten in der Landwirtschaft, nur zehn Prozent in der Industrie. Nun wurde eine staatliche Planungsorganisation ins Leben gerufen, die einen Entwicklungsplan ausarbeitete.

Was genau erhoffte sich die Türkei davon?

Steinert: Der Plan berücksichtigte die Bevölkerungsentwicklung und anzustrebende grenzüberschreitende Wanderungen von Arbeitskräften, wobei der Lohngeldtransfer als unabdingbare Hilfestellung für die eigene wirtschaftliche Entwicklung angesehen wurde. Zur Verwirklichung ihrer Ziele bemühte sich die türkische Regierung um Wanderungsvereinbarungen mit europäischen Staaten.

Wollte man sich nicht auch des eigenen Arbeitslosenüberschusses entledigen?

Steinert: Eigentlich war keine Auswanderung auf Dauer geplant. Die im Ausland erworbenen Kenntnisse und Fertigkeiten sollten vielmehr der türkischen Wirtschaft bereits nach kurzer Zeit wieder zugute kommen. Sichtbarer Ausdruck der neuen Politik war die in der Verfassung von 1961 garantierte Auswanderungsfreiheit.

Wie reagierte die Bundesrepublik damals auf das türkische Ansinnen?

Steinert: Um diese Frage verständlich zu beantworten, sollten wir uns zunächst von der Vorstellung lösen, daß Zuwanderungsländer danach streben, solche Vereinbarungen abzuschließen. Im Gegenteil haben Zuwanderungsländer vielmehr ein Interesse daran, die benötigten Arbeitskräfte im Herkunftsland frei anzuwerben. Dies erfolgt zumeist über die Botschaften, Konsulate oder eigens eingerichtete diplomatische Dienststellen.

Und die Herkunftsländer?

Steinert: Deren Regierungen haben ein vollkommen anderes Interesse. Sie wollen ihre Arbeitsverwaltung am Auswahlverfahren beteiligt wissen, um sicherzustellen, daß den Zuwanderungsländern nur solche Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt werden, die das Land auf Zeit oder auf Dauer verlassen sollen. Eine Wanderungsvereinbarung ist mithin ein wanderungspolitisches Instrument, mit dem das Herkunftsland versucht, die Wanderungen nach den eigenen Interessen zu steuern.

Wann geriet die Bundesrepublik als potentielles Einwanderungsziel in den Fokus anderer Länder?

Steinert: Die deutsche Wanderungspolitik sah sich bereits Ende 1953, massiv dann ab 1954, mit italienischen Interessen konfrontiert, mit der Bundesrepublik eine Wanderungsvereinbarung abzuschließen. Für Italien galt Westdeutschland als erwünschtes Zielgebiet von Wanderungen, die mittels einer bilateral vereinbarten Beteiligung der italienischen Arbeitsverwaltung an der sogenannten Vorauswahl der Arbeitskräfte nach den Bedürfnissen des eigenen Arbeitsmarktes gesteuert werden sollten. Dem italienischen Drängen konnte sich die Bundesregierung auf Dauer nicht verschließen, wofür vor allem außenhandelspolitische Erwägungen und Fragen der Zahlungsbilanz ausschlaggebend waren.

Warum blieb es nicht bei diesem einen Abkommen mit Italien?

Steinert: Noch vor Abschluß der Vereinbarung mit Italien hatten sich weitere Staaten um ähnliche Absprachen mit der Bundesrepublik bemüht: Über zwanzig waren es bis zum Beginn der sechziger Jahre. Diesem Druck konnte sie bis zum Ende des Jahrzehnts standhalten, ehe der spanischen Diplomatie der Durchbruch gelang. Die Gründe für das deutsche Nachgeben lagen keineswegs in einer allgemeinen Erschöpfung des Arbeitskräfteangebots in Italien, sondern vor allem in der Hoffnung, mittels organisierter Wanderungen spezialisierte Arbeitskräfte anwerben zu können, die infolge des wirtschaftlichen Umstrukturierungsprozesses in Spanien arbeitslos wurden, begleitet von der außenpolitischen Maxime, die wirtschaftliche und politische Annäherung Spaniens an Westeuropa zu unterstützen.

Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen.

Steinert: Die deutsch-spanische Vereinbarung löste eine Art Kettenreaktion aus. Ein weiteres Hinhalten des seit 1955 kontinuierlich vorgetragenen Wunsches Griechenlands nach einer Wanderungsvereinbarung hätte eine Brüskierung des von osteuropäischen Staaten umworbenen Nato-Landes bedeutet. Aus ähnlich gelagerten außenpolitischen Motiven, unter Berücksichtigung der türkisch-griechischen Spannungen, gab Bonn wenig später auch der türkischen Forderung nach. Damit geriet indes die ethnopolitische Ausrichtung der deutschen Zuwanderungspolitik, die von dem Leitgedanken geprägt war, nur „Europäer“ anzuwerben, ins Wanken. Um weitere Vereinbarungen mit außereuropäischen Ländern zu verhindern, sollte die Abmachung mit Ankara geheimgehalten werden; sie wurde lediglich durch einen Notenaustausch bestätigt.

Spätestens mit der Ankunft der türkischen Arbeitskräfte wäre doch das Abkommen sowieso bekanntgeworden, warum dann eine solche Maßnahme?

Steinert: Grund für diese rasch gescheiterte und reichlich naive „Geheimnistuerei“ war die Furcht, einen Präzedenzfall zu schaffen, auf den sich außereuropäische Länder berufen könnten. Staaten, die in diesem Zusammenhang häufig genannt wurden, waren Marokko, Tunesien, Algerien, Syrien und Ägypten, ferner finden sich Hinweise auf Thailand, Somalia, Singapur und die Philippinen.

Gab es Druck auf Deutschland – beispielsweise von den USA oder der Nato –, das Abkommen mit der Türkei abzuschließen?

Steinert: Dies ist mir nicht bekannt. In den staatlichen Akten habe ich keinerlei Hinweise darauf gefunden.

Die Anwerbevereinbarung war anfangs auf maximal zwei Jahre beschränkt. Außerdem sollte es, anders als beispielsweise im Abkommen mit Griechenland, keinen Familiennachzug geben. Warum wurde das nicht eingehalten?

Steinert: Die deutsche Politik basierte ursprünglich auf dem Leitgedanken, über die Weiterbeschäftigung ausländischer Arbeitskräfte jederzeit entscheiden zu können (Dispositionsvorbehalt). Allerdings fehlen in den staatlichen Akten Belege dafür, daß die Ausländerbeschäftigung insgesamt lediglich als eine kurzfristige Erscheinung betrachtet wurde. Die spärlichen Hinweise deuten eher auf das Gegenteil hin. Eine Grundsatzdebatte darüber fand jedoch nicht statt. Ebensowenig wurden die sozialen Folgen der Ausländerbeschäftigung diskutiert.

Nämlich?

Steinert: Die ausländischen Arbeitnehmer blieben so in einer permanenter Unsicherheit über die letztendliche Dauer ihrer Aufenthalte in der Bundesrepublik. Sie lebten und arbeiteten zudem in einer Gesellschaft, die nicht oder nur unzureichend über die Hintergründe und Ziele der deutschen Wanderungspolitik informiert war. Diese Politik blieb Verschlußsache, was wesentlich zu den bis heute anhaltenden Problemen beigetragen hat. Kaschiert wurde der mangelnde politische Wille in der deutschen Öffentlichkeit durch den in den sechziger Jahren aufkommenden, beruflich-sozial tendenziell deklassierenden Begriff „Gastarbeiter“.

1973 entschloß sich die Bundesrepublik  aufgrund der wirtschaftlichen Rezession zu einem Anwerbestopp. Welche Folgen hatte die Entscheidung?

Steinert: Der Anwerbestopp führte zu einer Verfestigung der ausländischen Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik und zu einem vermehrten Familiennachzug, was sicherlich von den damaligen Politikern nicht beabsichtigt worden war. Bis 1973 waren viele ausländische Arbeitskräfte mehrmals zwischen ihrem Herkunftsland und der Bundesrepublik hin und her gewandert. Einer Zeit der Beschäftigung in der Bundesrepublik folgte eine Zeit im Herkunftsland bei der Familie, anschließend wieder Arbeit in der Bundesrepublik oder in einem anderen Zuwanderungsland, und so weiter. Nach dem Anwerbestopp änderte sich dies, da alle Arbeitskräfte von außerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nun befürchten mußten, nach einer Ausreise keine neue Arbeitsstelle mehr in Deutschland zu finden. Sie blieben nun im Lande und holten die Familien nach, was nur allzu verständlich ist.

Wurden im Anschluß bei der Integration der türkischen Gastarbeiter seitens der deutschen Politik Fehler gemacht?

Steinert: Der schwerwiegendste Fehler, den die Bundesrepublik über Jahre gemacht hat, bestand meiner Ansicht nach darin, die Bevölkerung nicht über die Ziele der Wanderungspolitik zu informieren, gepaart mit einer abstrusen Angst, über Fragen der Wanderungs- und Integrationspolitik offen und öffentlich zu diskutieren. Statt dessen wurden Mythen kultiviert; der Begriff „Gastarbeiter“ gehört dazu.

 

Prof. Dr. Johannes-Dieter Steinert lehrt „Modern European History and Migration Studies“ an der University of Wolverhampton. 1995 erschien seine Habilitationsschrift „Migration und Politik. Westdeutschland – Europa – Übersee 1945-1961 (Secelo-Verlag, Osnabrück)

 www.imis.uni-osnabrueck.de

Foto: Türkische Gastarbeiterfamilie macht Rast auf dem jährlichen Weg in die Heimat, um 1975: Die Deutschen wurden über die Hintergründe und Ziele der Bonner Wanderungspolitik nicht informiert

 

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